<<2013
In vielen Einrichtungen können Angehörige bei der Pflege mithelfen. Manche Pflegekräfte erklären Mama gern und viel. Vor allem, nachdem sie erfahren haben, dass sie ihn nach Hause nehmen möchte und in Zukunft selbst pflegen wird. In zwei Reha-Kliniken nimmt sie an einem sogenannten Pflegetag teil. Dazwischen liegen etwa 4 Monate und schon einige Veränderungen bei Toni. Bei dem ersten Pflegetag steht die Deckelung noch bevor. Zu der Zeit liegt er im Koma, komplett ohne Bewusstsein. Sie lernt dort, ihn zu lagern, erfährt über die Nahrungs- und Medikamenten-Zufuhr vieles. Außerdem natürlich über die Pflege des Tracheostomas und der Trachealkanüle. Er hatte auch noch eine Pfählungsverletzung erlitten. Diese Wunde muss auch versorgt werden. Diese Verletzung war (wie auch die zwei oder drei gebrochenen Wirbel) verglichen mit dem Schädel-Hirn-Trauma und den Operationen nicht lebensbedrohlich und uns in den ersten Tagen nach dem Unfall gar nicht bewusst gewesen. Mir zumindest nicht. Monate später, nach der erfolgreichen Deckelung und der Verlegung in eine Rehaklinik am Bodensee, nimmt Mama auch dort gleich zu Beginn an einem Pflegetag teil. Zu der Zeit wird er langsam wacher und Mama kann täglich viele Stunden bei ihm sein. Sie hat sich dort in einer Ferienwohnung einquartiert und die stundenlangen Fahrtzeiten (je 6 Stunden täglich) fallen weg. Mama hat sich dort auf ihre Aufgabe als pflegende Angehörige vorbereitet, so viel wie möglich aufgenommen und gelernt. Und sie hat auch viel selbst mitgemacht bei ihm. Die Pflegekräfte unterstützt und zum Teil das abgenommen, was ihr gezeigt worden war. Verwirrend wird es, wenn das Gelernte und Abgeschaute dann aber nicht von allen anderen Pflegern ebenso gemacht wird. Das verunsichert total! Viel Sorge macht uns, dass er häufig sehr viel Luft im Bauch hat und sich erbricht. Das ist ein täglicher Kampf - mit der eigenen Sorge, dem Glauben, dass es verhindert werden kann und der Hoffnung, alle Beteiligten nehmen die Sorge ernst und helfen mit, um das zu verhindern. Vor allem, weil die Aspirationsgefahr so groß ist. Es geht also nicht nur darum, dass es nicht schön ist (weder für ihn, noch für die Pflegekräfte oder für uns) – nein, es ist jedes Mal ein Risiko und jedes Mal wächst die Angst, dass eine Lungenentzündung die böse Folge sein könnte. Manchmal habe ich Glück und kann am Wochenende und in den Ferien während eines Besuch in der Klinik bei den Therapien anwesend sein. Mama ist immer dabei und hat schon von den Fortschritten berichtet. An einem Tag komme ich an und Toni wird gerade für die Ergotherapie aufrechter ins Bett gesetzt. Zu der Zeit ist er praktisch ein „Sack Kartoffeln“: keine Stabilität im Körper und keine Bewegung aus eigener Kraft. Kaum soll die Therapie losgehen, muss er sich übergeben. Ich werde angewiesen, hinter ihn ins Bett zu klettern und ihn unter den Achseln zu stützen, sodass möglichst alles ganz raus aus dem Körper kann. Das war echt viel für mich! Es ist schwer, ihn zu halten. Er hört auch nicht so schnell wieder auf. Grundsätzlich bin ich eher zimperlich. Ich mag Blut nicht so gerne sehen, offene Wunden auch nicht und bei so viel kaum verdauter Sondenkost bin ich ziemlich am Kämpfen. Diese Sondenkost riecht ja schon frisch aus der Flasche nicht besonders… Aber genug der Unappetitlichkeit für heute! (Mama hat schon damals ganz gut dokumentiert und jeden Tag schriftlich festgehalten. Deshalb fällt es mir nicht schwer, mich wieder dorthin zurück zu versetzen. Aber es ist anstrengend und kostet Energie. Irgendwie kann ich gar nicht glauben, wie viel da eigentlich alles „dumm gelaufen“ ist und dass wir jetzt so zufrieden sein können.) Die Zubettgehzeit variiert, es ist also nicht in Stein gemeißelt, wann Toni ins Bett gebracht wird. Meistens sagt er meiner Mama, wann er sich hinlegen möchte. Die Abendhygiene läuft folgendermaßen ab:
Im Bad wäscht er seine Hände, die Zähne werden gereinigt und er kann den Mund ausspülen. Das Schlafshirt wird ihm über den Kopf gezogen und die Arme steckt er selbst in die Ärmel. Mit dem Deckenlifter kommt er vom Rollstuhl ins Bett. Wahlweise, wenn er (und vor allem Mama) nicht zu müde ist, kann er vom Rollstuhl aus auch aufs Drehteller stehen und sich mit ihrer Hilfe auf dem Bett absetzen. Seitlich legt er sich dann hin und nimmt die Beine mit Unterstützung hoch aufs Bett. Inzwischen kann er bei der Lageveränderung im Bett aus eigenen Kräften gut mitmachen. Er hebt das Becken an, damit er ausgezogen werden kann. Seit neuestem kann er sogar das Becken anheben und weiter seitlich abgelegen! Das ist eine große Entlastung! Wenn er auf dem Rücken liegt, dann kann er sich größtenteils selbst auf eine Seite drehen, damit das Liftertuch oder Netz unter ihm hin- oder weggelegt werden kann. Zurück zur Mitte klappt auch. Das ist schon erstaunlich! Liegt er dann auf dem Rücken, streckt er sich oft genüsslich ganz lange aus. Meist möchte er noch eine Weile auf dem Rücken liegen bleiben. Die Temperatur und Sauerstoffsättigung wird gemessen. Wenn alles gut geht, ist die „Wasserleitung“ mit dem Urinbeutel noch eine Weile dran. Ansonsten platziert Mama die Urinflasche und schaut immer mal wieder ins Schlafzimmer rein. Sie fragt dann nach einer Weile leise, ob er auf die Seite liegen möchte und lagert ihn dann dementsprechend mit Kissen im Rücken und unter/zwischen den Knien und Füßen. Kann er lange nicht in den Schlaf finden, fragt Mama ihn, ob er seine „Schlaftröpfle“ nehmen möchte. Wenn ja, bekommt er diese und oft schläft er dann eine Weile ganz tief. Etwa 2x pro Nacht wacht Mama davon auf, dass sie ihn hört. Er räuspert sich, schluckt, hustet oder brummelt vor sich hin. Ich hoffe, er wacht davon auf, dass er merkt, wie er auf Toilette muss – das wäre für die Zukunft prima! Ist das dann erledigt, schläft er meist rasch wieder ein. Mama im besten Falle ebenfalls. Nachtrag: Seit ich das obige geschrieben habe, ist einige Zeit vergangen. In den letzten Wochen hat sich auch da eine Verbesserung gezeigt: Die Anzahl der nächtlichen Lagerungskissen ist deutlich zurückgegangen. Die Kissen an den Beinen hat er öfters weggestrampelt. Manchmal hat er sich auch aus eigener Kraft bereits komplett von der einen Seite zur anderen umgedreht. Das größte "Problem" (im Sinne von Kräfte zehrend, anstrengend und nervig) war und bleibt noch immer manchmal die nächtliche Flut. In manchen Nächten bleibt das Bett trocken. Meistens jedoch ist es etwas oder selten sogar komplett geflutet. Was auf sie zukommt, kann Mama meist schon riechen, bevor sie die Augen aufschlägt. Deshalb hat sie vor zwei Monaten den Tagesplan umgestellt und die Flüssigkeitsgabe so eingeteilt, dass er abends nicht mehr so viel Wasser bekommt. Ob dadurch oder sein wachsendes Bewusstsein auch für diese körperinternen Vorgänge - es scheint langsam besser zu werden. Ich hoffe sehr, das bewahrheitet sich und wird bald ganz gut! <<Ostern 2013 (März/April)
Einige Notizen - drei Jahre ist das nun her: Mama hat in der Nähe der Phase F-Rehaklinik eine Unterkunft bekommen (Ferienwohnung) und ist fast den ganzen Tag bei ihm. Sie begleitet die Therapien und berichtet mir abends über Skype oder Telefon von dem Tag. Toni wird stundenweise entblockt, um das Schlucken und Husten zu üben. Das ist anstrengend für ihn. Er kann noch nicht lange im Rollstuhl sitzen. Nicht jeden Tag, nur ein paar Stunden. „Mobilisation“ nennt sich das dann und ist körperlich einfach auch sehr anstrengend. Offiziell wird sein Zustand als Apallisches Syndrom bezeichnet. An den Wochenenden und Feiertagen fahre ich zu Toni & Mama in die Rehaklinik. Dort angekommen setze ich mich oft zu ihm aufs Fußende des Bettes. Im März hat er einmal den Kopf zu mir gedreht und ich sagte daher „Hallo“ zu ihm. Da bewegte er die Lippen als würde er ebenfalls Hallo sagen. Das war so überraschend und ich war erst völlig perplex. Danach aber mussten wir aus ganzem Herzen lachen. Ich meine er hätte noch lange geschmunzelt darüber, uns so zum Lachen gebracht zu haben. Meist erzählen wir ihm, was es Neues gibt. Vom neuen Autokauf berichten wir. Und sind erstaunt, wenn er am Tag darauf noch davon weiß. Er ist konzentriert dabei, seinen Körper wieder zurückzuerobern. Alles andere ist ihm eher unangenehm. Er möchte also in seinen wachen Phasen keine Musik hören oder so. Er hebt das Becken leicht an, wenn man seine Beine aufstellt und festhält. Er drückt und entspannt die Fäuste, bewegt die Zunge… all das. Die Therapien sind das Wichtigste jetzt. Häufig scheint er zu schnell zu viel Nahrung zugeführt bekommen zu haben. Da muss er dann brechen. Das bedeutet leider auch, dass Therapien nicht so durchgeführt werden können, wie geplant. Ich bin der Meinung, er ist sich im Klaren über seinen Zustand und dass er viel erneut lernen muss. Darüber ist er (toni-typisch) nicht verzweifelt, sondern geht das an und übt. Seine ganze Kommunikation besteht (hin und wieder) aus minimaler Mimik und darin, die Hand zu drücken, wenn man seine hält. Das ist schon viel für uns. Als ich einmal etwas sagte, lächelte er sehr breit. Ein so weites Lächeln, dass sich sogar Lachfältchen an seinen Augen bildeten! Inzwischen ist das Annehmen einfacher geworden. Das mit Toni ist so, wie es ist. In Situationen, in denen ich ihn schmerzlich vermisse, versuche ich wie er zu sein. Mama sagte schon mehrmals „Toni“ zu mir. Konflikte lösen sich für mich in der Wahrheit, dass ich nicht mehr sein kann, als ich bin. In der Situation mit Toni und für Mama ist das gut genug! Schlechte oder „keinen guten Tag“-Tage gibt es natürlich auch im April 2013: Heute am Vormittag war er total fertig. Er sah verloren und gestresst aus. Wir haben versucht ihn wieder zurück und zu sich zu bringen. Bei einer Fuß- und Stirnmassage hat er sich langsam entspannt. Am Nachmittag war er entblockt und hat gut abgehustet und häufig gut geschluckt. So langsam will ich nicht mehr lange warten, bis Toni in der neuen Wohnung angekommen ist. Oder wie ich das im März 2013 geschrieben habe: Ich muss immer warten. Ich warte. Darauf dass wir umziehen können. Dass Mama Zeit zum Reden hat. Dass Toni Fortschritte macht. Dass ich aufhören kann zu warten. <2015
Unter „Pflege“ verstehe ich sowohl die Pflegekräfte in den verschiedenen Einrichtungen, die Pflegekräfte, die zu Hause betreuen, als auch die Tätigkeiten bzw. das Aufgabengebiet selbst. Wovon ich neulich schlecht träumte, war die „Pflege zu Hause“. Der Traum selber war ziemlich konfus, ich weiß nicht mehr viel. Mir blieb einfach das Gefühl in Erinnerung: Wir saßen als Familie zusammen, hatten es gemütlich und harmonisch. Dann sagte Mama plötzlich: „Jetzt kommt gleich die Pflegekraft, ich muss noch aufräumen!“ Im Bauch hatte ich da ein ganz blödes Gefühl, das sich mehrere Tage nach dem Traum hielt. So ein Gefühl der Einschränkung, der Begrenzung des Familienlebens, Ende der gemütlichen Geborgenheit. Das ist die Quintessenz: ist man auf Unterstützung bei der Pflege zu Hause oder auf 24-h-Betreuung angewiesen, bedeutet es eine Veränderung im Familienleben, die ich mir nicht so drastisch vorgestellt hatte, wie wir es dann tatsächlich erlebt haben. JA, ich bin ein „Sensibelchen“ und vielleicht liegt es daran, wie wir auch früher das Familienleben gestaltet haben. Durchaus mag es betroffene Familien geben, bei denen die Tür für Freunde und Bekannte immer offen steht. Wo die Nachbarskinder oder befreundete Erwachsene schon seit Jahren regelmäßig und selbstverständlich unangekündigt häufig zu Besuch sind. So war es bei uns nicht. Nicht bewusst von uns so gewählt, sondern es war einfach so, dass wir zu Hause meist zusammen gemeinsam waren. In der neuen Umgebung, der neuen aber deutlich kleineren Wohnung, rückte dann alles so eng zusammen. Überall die vielen Hilfsmittel und Trainingsgeräte, kaum Rückzugsmöglichkeiten und dadurch eine erzwungene Öffnung jedes persönlichen Gesprächs… mir war das zu viel. Ich kam damit gar nicht gut zurecht, dass ich zu Hause nicht einfach drauflosreden konnte (ohne mit einem Kommentar durch einen Fremden rechnen zu müssen). Oft habe ich mich dann auch nach den Zeiten der Pflegekräfte gerichtet und bin eben bewusst später gekommen. JA, ich bin was das angeht eben empfindlich. Vielleicht wäre es anders, wenn es mehr Räume gäbe. Oder wenn Toni nicht solche Fortschritte gemacht hätte, dass wir ihn immer mehr und länger in unseren Alltag miteinbeziehen wollten und konnten. Dann wäre die Pflegekraft eben im „Patientenzimmer“ gewesen und wir woanders. So aber waren wir ja ständig unter Beobachtung (und andersrum auch). Nicht immer passt die Chemie perfekt und sich auf die verschiedenen Personen einzustellen, jeweils den richtigen Ton zu finden, das ist nicht einfach. Weder für die Pflegekräfte, noch für die Angehörigen von Patienten, die nicht selbst für sich sprechen können. Es war auch Toni anzumerken, dass dieser häufige Wechsel ihm zu schaffen machte. Er zog sich in sich zurück, machte oft kaum die Augen auf und „saß“ das aus. Es dauerte dann immer lange, ihn wieder zurück an die Oberfläche zu holen. Oft war er sogar anderthalb Tage lang komisch, nachdem es an einem Tag eine 4-Stunden-Einheit gab, bei der wir ihn allein mit einer Pflegekraft zu Hause ließen. Beobachtet man das mehrfach, kann man die "Freizeit/Auszeit" nicht wirklich genießen. Soviel mal heute als erster Einstieg. Mehr dazu folgt hoffentlich demnächst… <2016>
Schwierige Zeiten, Stimmungstiefs und verschiedene Welten! Schon längst hatte ich vor, endlich etwas mehr über die Pflege zu schreiben. Aber außer unangenehme Träume davon zu träumen, bringe ich bisher mehr dazu leider nicht zustande. Stattdessen möchte ich heute mal loswerden, was gerade so seltsam bedrückend und teils auch erschreckend ist. Zuerst: Wir als pflegende Angehörige sind froh über alle Fortschritte, die Toni bisher gemacht hat und haben keinen Grund zur Klage. Eigentlich. Allerdings merken wir immer wieder ganz deutlich, dass wir nicht (mehr) belastbar sind. Das ist für mich erschreckend. Den Alltag mit aktivierender Pflege und Co-Therapeuten-Aufgaben bewältigen wir ganz gut. Jede Abweichung aber kostet Energie und Kraft. Dazu gehört, so seltsam sich das anhören mag und so krass sich das anfühlt, fast jeder Kontakt nach außen. Sei das nun ein von Herzen gut gemeinter Wunsch nach einem schönen Geburtstagsfest, der einen Zustand voraussetzt, voraus-hofft oder voraus-wünscht, der mit unserer Realität leider nichts gemein hat und aufgrund der Gegebenheiten fast sarkastisch anmutet. Natürlich macht Toni Fortschritte und es verändert sich vieles. Aber das ist eben genau der Punkt: Es wird anders. Nicht leichter oder gar besser. Nur anders. Vielleicht sind wir auch nur zu ungeduldig. Ich bin's ganz bestimmt! Ich hatte mir gewünscht, dass mit den Fortschritten auch Erleichterungen einhergehen. Das ist zwar so, aber in so geringem Ausmaß, dass es bei Alltags-Abweichungen eben nicht ins Gewicht fällt. Eine weitere Abweichung: ein Urlaubs-Video-Bericht, der deutlich macht, was alles unwiederbringlich verloren und uns unmöglich ist. Das stimmt mich ungewollt nachhaltig traurig. Außerdem zieht es in unserem ruhigen Ablauf der Tage weite Kreise. Seitdem träumt Toni nachts zum Beispiel viel mehr und heftiger als zuvor. Dabei atmet er schwer und unregelmäßig (was Mama natürlich wach hält). Tagsüber ist er sehr grüblerisch und nachdenklich. Alles "von außen" ist natürlich gut gemeint … das ist mir schon bewusst. Es fällt mir nicht leicht, das heute zu schreiben. Klar, jeder hat sein Päckchen zu tragen und nicht jeder kann sich so ganz auf unsere Realität einfühlen, weil es natürlich auch für alle anderen schmerzlich ist, die Vergangenheit mit Toni ruhen zu lassen. Uns und ihn in dieser veränderten Situation anzunehmen. Es liegt an uns, die richtigen Parameter darauf anzuwenden oder eben Prioritäten zu setzen, damit wir möglichst schnell wieder zurück zu einer stabilen Ausgeglichenheit finden. Genau das gelingt uns manchmal eben nicht so gut, wenn alles so gehäuft kommt. Es ist alles lieb gemeint, dennoch zeigt es uns schmerzlich krass, wie weit weg wir von einem „normalen Leben“ sind. Dass es ein Zurück nicht geben kann. Das ist so ein seltsames Gefühl von absoluter Isolation. Gemischt mit einem schlechten Gewissen, weil ich nicht undankbar sein möchte, für die vielen kleinen Wunder, die wir erleben. Und für die vielen guten Gedanken und guten Wünsche, die uns erreichen. Für alle, die Anteil nehmen und hoffen, es wäre bereits leichter, einfacher oder besser. Aber es ist, wie es ist und manchmal ist es schwer. Für uns genauso wie für alle anderen, die Toni vermissen. Vor allem, wenn wir alle drei irgendwie den „Blues“ haben. Darf man das nicht auch offen zugeben? Vielleicht ist es auch einfach der Winter (der erst nicht kommen wollte und nun nicht daran denkt, seinen Sommerschlaf zu beginnen), der uns die Stimmung trübt. So hoffe ich abschließend inniglichst auf baldige Besserung - sowohl des Wetters als auch der Gemütslage(n)! :-) 2016
Einmal quer durch die Wohnung geht bei uns der Deckenlifter. Wie das bei den Türen funktionieren kann, habe ich mir anfangs nicht vorstellen können. Von der Hersteller-Firma erhielten wir vor einigen Monaten eine Anfrage. Eine andere Familie hat Interesse an dem „Tarzan“-Deckenlift, allerdings noch Fragen dazu und würde sich gern anschauen, wie das funktioniert. Ob es für Mama in Ordnung wäre, wenn die Kontaktdaten weitergegeben würden. Relativ spontan rief am Freitag eine Frau an und kündigte sich für den nächsten Tag an. Aus den geplanten zwei Stunden Anfahrt wurden stau-bedingt drei, aber die Mutter und das Teenager-Kind im Rollstuhl kamen heil und sicher an. Über einander wussten wir zuvor praktisch nichts. Nur scheinen wir im größeren Umkreis die einzigen zu sein, die dieses System ohne die bauliche Veränderung am Türsturz anwenden. Obwohl wir fremd waren, war das Gespräch offen, locker und von viel Lachen begleitet - richtig nett. Das Liftersystem führten wir dann selbstverständlich ausführlich vor. Ich wurde, im Tuch hängend, einmal vom Wohnzimmer durch den Flur bis ins Schlafzimmer befördert und dort auf dem Bett geparkt. Zu spüren, wie erleichtert die Frau schien, dass es tatsächlich auch für ihre Familie geeignet ist, war toll. Wir helfen gern, und es scheint dann alles einen größeren Zusammenhang mit tieferem Sinn zu geben. Ohne die Notwendigkeit selbst einen Deckenlifter nutzen zu müssen, hätten wir niemals die Geschichte dieser Familie gehört und die beiden nicht kennengelernt. Von Rollstuhl zu Rollstuhl war Neugier und Offenheit zu spüren. Toni hat sich ein Fettnäpfchen ausgesucht und seine eigene Frau auf Nachfrage mal spontan 10 Jahre älter gemacht! Da er bei solchen „Falschaussagen“ meist schmunzelt, bin ich mir nicht sicher, ob er das nicht mit Absicht macht, um mal eine starke Reaktion unsererseits auszulösen. naja... :-) Vielleicht bleiben wir in Kontakt, halten uns gegenseitig über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden? Jedenfalls war es gestern eine unerwartet schöne spontane Begegnung mit Fremden. 2013-2014<<
Wie geht das denn nun eigentlich genau mit dem Absaugen bei einer Trachealkanüle?!? Also: Wer nicht husten kann, der hat verirrten Speichel oder Sekret in den Atemwegen oder der Lunge und kriegt das dort nicht mehr weg. Es sollte da aber weg, damit das Atmen nicht anstrengt und bevor es schlimmstenfalls zu einer Lungenentzündung kommt. Wir hören am Atemgeräusch und merken auch an der Sauerstoffsättigung, wie es mit der „Atemwegs-Freiheit“ bei Toni steht. Ein Absauggerät funktioniert so ähnlich wie ein Staubsauger. Vorne auf den Schlauch wird jedes Mal ein neuer steriler Katheter gesteckt. Es gibt unterschiedliche Absaugkatheter. Wir hatten zum Schluss eine ganz dünne Variante mit speziellem Ende. Der Schlauch saugt das „Material“ in einen Auffangbehälter. Nach einem Absaug-Vorgang wird kurz Wasser nachgesaugt, um den Schlauch zu spülen. Der sterile Katheter wird in den Atemweg eingeführt und das störende Flüssige rausgesaugt. Die Katheter sind ca. 45 cm lang. Damit man dabei nicht zu tief oder bis in die Lunge kommt, muss man unbedingt wissen, wie lange die Kanüle ist. Erst als wir einmal mit der Logopädin zusammen eine Kanüle angeschaut haben und damit den Vorgang beim Entblocken durchgesprochen haben, wurde mir das alles so richtig klar. Alles mal „trocken“ zu sehen, also auf dem Tisch und in den Händen statt zum Großteil in Tonis Hals steckend, machte es für mich viel besser begreiflich. Überwiegend logische Sachlichkeit und weniger Emotion, das war hilfreich. Der Absaugvorgang kann unterschiedlich lang dauern. Es gibt ein Ventil, das es ermöglicht, den Katheter ohne Saug-Leistung einzuführen, damit in dieser Zeit keine Atemluft weggesaugt wird, die der Patient einatmet. Ist die richtige Stelle kurz unter dem Kanülen-Ende erreicht, kann mit dem Daumen das Ventil geschlossen werden und das Absaugen beginnt. Zwirbelt man dabei den Katheter leicht und zieht ihn gleichmäßig langsam heraus, erwischt man alles was drinhängt. Wer absaugt muss ganz einfach wissen, wie lang so eine Kanüle eigentlich ist und welchen Katheter man gerade benutzt. Wie tief kann man den Katheter einführen? Saugt sich das Katheter-Ende am Gewebe fest und verletzt es dabei möglicherweise die Luftröhre? Es gibt Katheter, die speziell entwickelt wurden, um Verletzungen zu vermeiden. Man kann nicht einfach mit jedem x-beliebigen Katheter bis zum Anschlag in der Lunge herumstochern. Manchmal reizt das Absaugen auch zum Husten. Toni kann dann kräftig und in hohem Bogen abhusten. Ja, es ist nicht sehr appetitlich. Trotzdem machen wir Witze darüber, wenn er dabei uns, den Schrank oder einen Vorhang erwischt. Immer noch besser als „Iieh!“ zu quicken, wegzurennen und damit seine Gefühle zu verletzen, oder? Unsere Erfahrung führt mich zu folgender Erkenntnis: Insbesondere bei Schädel-Hirn-Patienten sind Routine und bekannte Ablaufe extrem wichtig. Die Handgriffe bei der Pflege im Allgemeinen und beim Absaugen im Speziellen, nachvollziehbar immer auf dieselbe Weise durchzuführen, sorgt für Entspannung beim Patienten und ermöglicht auch eine Förderung. Weil ihm klar ist, was nacheinander folgt, bleibt er entspannt, kann er sich vorbereiten – und in Tonis Fall auch mit der Zeit selber mithelfen. Zugegeben, das ist nicht neu - aber wenn man sieht, welche Fortschritte Toni damit gemacht hat, wünsche ich mir, dass bei allen anderen Patienten dies ebenfalls beherzigt wird. Das ist jetzt die Absaug-Beschreibung bei meinem Vater. Es gibt natürlich Tracheotomierte, die sich selbst absaugen (können). Nur habe ich die dabei nicht persönlich beobachtet. Ich gehe davon aus, dass es ganz ähnlich funktioniert. Sonst korrigiert mich bitte, wenn ich falsch liege! :-) 2013<<
Während der langen Phase, in der Toni in verschiedenen Einrichtungen untergebracht ist, bis wir ihn eines Tages nach Hause holen können, beobachte ich viele Pflegekräfte bei ihrer Arbeit mit ihm. So kann ich mir ausmalen, was auf uns zukommen wird und wie man das überhaupt macht. Anfangs finde ich allein den Gedanken an ein Tracheostoma extrem erschreckend und kann beim Absaugen kaum hinsehen. Irgendwann realisiere ich, wie wichtig das ist, weil er besser und leichter atmen kann, wenn störendes Sekret entfernt wird. In der Rehaklinik lernt Mama viel über die Pflege und was dabei zu beachten ist. Darunter auch den richtigen Umgang mit dem Absauggerät. Es ist April 2013, ihr sehnlichster Wunsch ist, Toni möge von der Trachealkanüle entwöhnt werden, damit sie ihn nach Hause nehmen kann. Leider erfüllt sich der Wunsch nicht so schnell wie erhofft und wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, ihn mitsamt dem Tracheostoma und Kanüle daheim zu pflegen. Also konzentriert Mama sich darauf, was ihr erklärt und gezeigt worden war und spricht dabei laut aus, welche Handlungen sie nach und nach ausführt. So ist Toni stets informiert, sie fühlt sich sicher und auch ich lerne so nebenbei, das Hinschauen aushalten zu können und Neugier zu entwickeln. Allerdings beobachte ich im Lauf der Monate bei den unterschiedlichen Pflegekräften zum Teil große Abweichung von dem Ablauf, der Mama gezeigt worden war. Das verunsichert mich. Wieso halten sich nicht alle daran? Mich stört extrem, dass es offenbar keine Richtlinien für den korrekten Umgang gibt und dass so viel Halbwissen dabei einfach in Kauf genommen wird. Man kann da durchaus viel falsch machen. Wieso gibt es keine verpflichtende Teilnahme an einem jährlichen Workshop oder Kurs, in dem Intensiv-Pflegekräfte sich über Trachealkanülen-Management weiterbilden können? Stattdessen bin ich als Angehörige in einer blöden Situation. Entweder führe ich mit jeder Pflegekraft eine Diskussion über das Absaugen, weil mir das Wohl meines Vaters wichtig ist. Schließlich kenne ich die Bandbreite seiner Reaktion beim Absaugen schon seit Monaten. Oder ich ignoriere alles, was ich gelernt und beobachtet habe und glaube Pflegekraft X, die mir sagt, es sei normal. Selbst wenn sie/er diesen Patienten erst seit wenigen Stunden kennt. Blöd ist die Situation deswegen, weil wir ja auf Hilfe angewiesen sind. Allein ist das kaum zu schaffen. Aber – und das frage ich mit Nachdruck – muss man dafür in Kauf nehmen, dass der Intensivpatient unter der Pflege leidet? Er kann sich nicht mitteilen, kann nicht „Au, lassen Sie das bitte!“ rufen. Wenn wir auch sonst nicht viel wissen: nach 13 Monaten in unterschiedlichen Kliniken oder Einrichtungen und den vielen Lebensjahren davor, sehen oder spüren wir sehr deutlich, ob er entspannt ist oder leidet! Manchmal wünschte ich mir, etwas mehr Ohr für die Angehörigen von Wachkomapatienten. Wir sind keine Experten für Intensivpflege. Aber wir sind Experten für diesen einen, speziellen Patienten! <<2013-2014
Ohne Luft kein Leben! Lebensnotwendig ist also eine angstfreie Versorgung mit Atemluft. Da ich das so wichtig finde, versuche ich mal, alles was ich in diesem Komplex Tracheostoma als bedeutend begreife, möglichst verständlich zusammenzufassen. Zahllose Wege führen nach Rom – oder zu einem Tracheostoma! Sei das Kehlkopfkrebs, Hirnblutung, Schädel-Hirn-Trauma, Verletzung der Nerven im Rachenbereich, ... Das Schlucken ist ein überaus komplizierter Vorgang, den wir unversehrten Menschen im Reflex durchführen. Doch weil da so viele Dinge gleichzeitig und ineinandergreifend ablaufen, kann schon ein einziger Funktionsausfall in einem winzigen Teilbereich dazu führen, dass der ganze Vorgang nicht mehr zuverlässig funktioniert. In Tonis Fall ist die Crux eine Einblutung im Stammhirn genau in dem Bereich, der für das Schlucken zuständig ist. Dadurch ist sein Schluckreflex ausgeschaltet und gleichzeitig wird eine vermehrte Speichelproduktion angeregt. Super, warum einfach wenn es auch kompliziert geht! ;-) Durch das Tracheostoma (den künstlichen Zugang zur Luftröhre durch den Hals) und eine geblockte Trachealkanüle (mit einem kleinen Ballon, dem "Cuff"), sollte der Speichel nicht einfach runter in die Lunge fließen. Das nennt sich Aspiration (wenn etwas Anderes als Luft in der Lunge landet) und kann gefährlich werden. Und zwar genau dann, wenn die Person nicht husten kann. Wir alle verschlucken uns ja ab und zu und husten dann heftig. Damit wird die Lunge davon befreit und es kommt in der Regel nicht zu einer Lungenentzündung. Durch die geblockte Kanüle ist der Atemweg verkürzt. Kanüle in der Luftröhre (also Hals) – Lunge / Lunge – Hals. Ich atme hingegen durch Mund oder Nase – Rachen – Kehlkopf – Luftröhre – Lunge und zurück. Damit man sich das genauer vorstellen kann, habe ich am 31.12.15 eine Bilder-Reihe mit Skizze und Sitz der Kanüle veröffentlicht. Wer mag, kann sich das da nochmals genauer anschauen, um den Unterschied zu verstehen. Wie dort auch zu sehen ist, hatte Toni verschiedene Aufsätze für den außenliegenden Kanülenausgang. Entweder mit Befeuchtungsvlies vorne drin, das ist die sogenannte „feuchte Nase“. Dort atmet man über diesen Aufsatz ein und aus. Das Vlies nimmt einen Teil der Atemfeuchtigkeit auf und gibt es beim Einatmen wieder ab. So wird ein übermäßiges Austrocknen der Atemwege verhindert. Beim Sprechventil ist nur der Einatem über die Kanüle möglich. Der Ausatem wird durch eine Klappe am Entweichen durch die Kanüle gehindert und geht dann über die oberen Atemwege durch Kehlkopf, Rachen und Mund hinaus. Nur durch vorbeiströmende Luft können im Kehlkopf Töne gebildet werden, daher also der Name Sprechventil. Egal welcher Aufsatz drauf ist, ein richtiger Husten ist damit nicht möglich. Also funktioniert die Lungenreinigung nicht so zuverlässig, wie nötig. Weil es nur den kurzen, direkten Weg zum Luftholen gibt und keine Möglichkeit besteht, irgendwie auszuweichen, ist es lebensnotwendig, die Kanüle stets frei zu halten. Dazu wird ein Absauggerät mit passenden Absaugkathetern benötigt. Beatmungspatienten oder diejenigen Patienten mit Trachealkanüle, denen es nicht möglich ist, sich selbst abzusaugen, sind deshalb auf 24-h-Pflege/Intensiv-Pflege angewiesen. <<2013
Es begab sich einmal zu der Zeit als Toni noch nicht lange bei uns im neuen Zuhause war, da erwarteten wir eines Nachmittages Besuch: Alles ist vorbereitet, Toni erhält eine entspannende Stirn-Streichel-Massage und wir versuchen ruhig zu bleiben. Für mich ist alles, was rund herum immer zu tun ist, noch neu und mich macht der bevorstehende Besuch nervös. Also, abwartende Stille im Wohnzimmer. Doch plötzlich … … ein quitschendes Geräusch … „Was war jetzt das?“ „Weiß nicht!“ Lauschen - Stille „Hm, vielleicht hat ein Rad vom Rollstuhl gequitscht?“ „Stimmt, das könnte sein!“ Wir machen also weiter, lauschen nicht mehr auf merkwürdige, unerklärbare akustische Phänomene. Einige Minuten später dann verschieben wir den Rollstuhl. Mama: „Hoi, wieso ist da jetzt nass?“ Auf dem Boden finden wir eine kleine Pfütze. Schnell stellen wir fest, dass der Verschluss des Urin-Bein-Beutels nicht ganz zu war und sich wohl bei ansteigendem Druck geöffnet hat. Und zwar mit einem leisen, quitschenden Geräusch. Der Besuch ist noch nicht da, also nur ein kleines, leicht zu bereinigendes Malheur! Nur witzig, dass wir das Rad als Geräuscheverursacher bezichtigt hatten. Seit diesem Tag ist das unter uns dreien der Geheim-Code für jede große oder kleine Urin-Katastrophe: „Es ist heut Nacht wieder mal ein Rad passiert!“ <<2012/2013
Ob der Umgang mit mir in der Zeit direkt nach dem Unfall leicht war? Vermutlich nicht. Ich weiß noch, dass ich wahrscheinlich anders reagierte, als erwartet wurde. Wobei ich noch nirgendwo einen Verhaltens-Leitfaden für Trauma-Angehörige gesehen habe. So meide ich im Jahr 2013 viele Situationen, weil ich mich dem einfach nicht gewachsen fühle. Bei der Arbeit geht das natürlich nicht. Je nach Grad der Sensibilität, fragen mich da manche Personen auch hin und wieder wie es mir geht. Statt einfach zu sagen, „es geht!“ oder „Gut!“ oder sonst eine schnell abfertigende Antwort zu geben, sage ich, wie es ist. Nicht selten dabei kurz mit den Tränen kämpfend. Im Grunde völlig unsensibel, aber ich kann da einfach nicht anders. Meist höre ich mir dabei selbst zu, sag mir innerlich „Hör doch auf!“ und rede trotzdem immer weiter! Vielleicht muss das einfach raus? Vielleicht möchte ich klarstellen, dass mein „Urlaub“ nicht so sein wird oder gewesen ist, wie das angenommen wird? Einige Menschen habe ich damit bestimmt ziemlich überrumpelt und geschockt. Es war ihnen anzusehen, dass sie damit jetzt nicht gerechnet hatten. Im Grunde vermutlich auch nicht mal darauf eingestellt waren, wirklich zuzuhören. Manche Gespräche treiben ja einfach so dahin, die üblichen Erwiderungen sind SmalltalkProfis in Fleisch und Blut übergegangen. Da war ich noch nie richtig gut drin. Tja, nur eine unbedachte Frage und ich rede mindestens 4 Minuten lang von Unfall, Wachkoma, schwer-pflegebedürftig, Unterstützung der Eltern, etc… Die wenigsten wissen dazu etwas zu sagen. Und gerade Ende 2012 bis etwa März 2013 haben Worte auch gar nicht geholfen! Am besten zu ertragen waren eigentlich noch „Viel Kraft!“-Wünsche. Hätte ich mir wohl besser ein Schild um den Hals gehängt mit einer Warnung drauf: WRACK BEI DER ARBEIT – FRAGEN PERSÖNLICHER NATUR AUF EIGENE GEFAHR Manche, die ich damals mit meiner Verzweiflung so geschockt hatte, dass sie jeglichen näheren Kontakt vermieden haben, konnte ich inzwischen über die Fortschritte und die positiven Entwicklungen ins Bild setzen. In 2015 selbst auf der anderen Seite eines „Schicksals-Berichts“ zu stehen und mein Beileid ausdrücken zu versuchen, hat mir gezeigt, wie hilflos und sprachlos man dabei ist. Im Geist höre ich mich dann mit unpassenden Gedanken jonglieren. Wie z.B. „Wird schon wieder!“ oder „Wenigstens kein langes Leiden!“. Verzweiflung kann man nicht schönreden. Aus meiner eigenen Erfahrung habe ich nur gelernt, dass es besser sein mag, manchmal einfach nur zuzuhören. Verstehen zu wollen und zu hören. So schwer das auch ist. Nicht viel sagen, nur zum Abschied „Viel Kraft!“ <<2014
So ein Schlucktraining ist ziemlich komplex. Irgendwann 2014 erzählte mir Mama, dass Toni von seiner Logopädin Gesichtsgymnastik aufgetragen wurde. Vermutlich zum Muskeln reaktivieren, aufwecken, gezielt benutzen. Wie und warum auch immer: es ist eine ideale Gelegenheit für mich, mit Toni Blödsinn zu machen! Ich bringe mich auf Höhe seines Gesichtes, ziehe die Augenbrauen hoch und er macht es nach. Dann wird die Nase gerümpft oder gekräuselt – erst ich, dann er. Breites Grinsen, Augenbrauen zusammenschieben und dadurch ganz finster und böse wirken, Zunge rausstrecken… Immer mal wieder machen wir das. Manchmal schaut er einfach rüber, nimmt genau wahr, was wir in dem Moment tun. Fange ich da seinen Blick auf, ist er „voll da“. Ich zieh eine Grimasse und er grinst. Manchmal ist das während Mama und ich essen. Und ja, manchmal habe ich dann so „pantomiert“ als wäre das Essen überhaupt nicht lecker – natürlich nur, wenn Mama gerade nicht im Raum war! Vielleicht auch nur bei den Speisen, die er immer so gern mochte. Es ist schon gemein, da zu sitzen und Pfannkuchen zu essen (oder sonstigen Kuchen) und dabei von ihm beobachtet zu werden, der in dem Moment keinen Kuchen essen darf/kann! Immer wenn ich vorgebe, es wäre nicht lecker und mir wäre übel vom Essen, lachte er. Anfangs nur so ein ganz leises Schnauben und ein breites Grinsen. Nicht selten floss dabei der viele Speichel über. Eine gute Gelegenheit zur Übung für ihn, sich den Mund mit einem Tuch abzuwischen. Wenn er nicht damit rechnet, lacht er auch über eine plötzlich rausgestreckte Zunge. Nach ein bisschen gutem Zureden, streckt er dann die Zunge auch so langsam raus. Wann immer möglich nutze ich seine Wachheit für Unfug und nicht lange, da macht er das auf Zuruf: „Naserümpf“ „böse Augenbraue“ „Grins“ „Augenbraue hoch“ Für mich ist das total cool, ich lache jedes Mal und freue mich riesig darüber, dass er entweder meinen Gesichtsausdruck sehen und imitieren kann oder genau verstanden hat, was ich sage und er das so schnell umsetzen kann. Da er 2014 nicht deutlich sprechen kann, ist diese Reaktionsfähigkeit ein ziemlich gutes Beispiel dafür, dass er trotz Schädel-Hirn-Trauma NICHT extrem matschbirnig ist. Oft bespreche ich dann mit ihm, den "Trick" später auch Mama vorzuführen, wenn sie dann wieder zurück in den Raum kommt. Manchmal klappt das, manchmal nicht. Es kommt auf die Dauer des Einübens/Erarbeitens und der anschließenden Wartezeit an. Je nachdem wie anstrengend das war, schläft er beim Warten ein. Dabei ist ein Nickerchen nach einer Aktiv-Phase durchaus wichtig. So wird das Gelernte im Gehirn gespeichert. Ich kann mich noch genau erinnern, wie im Herbst zum ersten Mal ziemlich viele Familien-mitglieder bei uns zu Besuch waren – zum Teil auch Toni seit dem Unfall das erste Mal wiedersahen. Da war das ganze Wohnzimmer voll und er grinste breit. Da rief ich ihm das Kommando „böse Augenbraue“ zu und er demonstrierte vor versammelter Mannschaft seine Macht über die eigenen Augenbrauen. :-) Abschließend möchte ich dazu noch sagen, dass ich da lange „naserümpf“ rufen kann und nichts passiert, wenn er keine Lust dazu hat. Es klingt nur ein wenig nach „abrichten“ – ist vielmehr ein gemeinsames Training. Solange er sich ab und zu auf dieses Niveau einlassen kann, über blöde Grimassen oder Witze schmunzelt und selbst Grimassen zieht, ist mit dem Shunt (Hirndruck) alles in Ordnung! Gerade an eher müden Tagen käme bei andauernder Dumpfheit sonst bei uns Sorge auf. <2015>
Der Tag von Mama & Toni beginnt ruhig und es kann auf ihn eingegangen werden, sofern nicht gleich früh am Vormittag eine Therapiestunde angesetzt ist. So kann er entscheiden, wann er aufstehen möchte. Pflege am Morgen Zweimal in der Woche ist Dusch-Tag. An den anderen fünf Tagen ist die Morgenhygiene zweigeteilt: Im Bett wird seine untere Körperhälfte gewaschen und angezogen. Dabei kann er aktiv mitmachen. Noch im Bett wird die PEG gepflegt und das Pflaster zur Befestigung frisch geklebt. Anschließend folgt der Transfer in den Rollstuhl. Dazu rollt er sich auf eine Seite, das Liftertuch wird unter ihn gelegt, er rollt auf die andere Seite und wenn es richtig ausgebreitet ist, wieder auf den Rücken. Mit dem Deckenlifter, dessen Tasten (auf/ab) er selbst bedient, setzt ihn Mama in den Rollstuhl und fährt Toni im Bad ans Waschbecken. Dort wird das Schlafshirt ausgezogen und Toni wäscht sich seine Hände über dem Wasch-becken. Weil er nicht entspannt nach vorn gelehnt unter den Wasserhahn kommt, haben wir eine Handbrause installiert. So kann er die Seife unangestrengt abspülen. Das Händewaschen macht er genauso ausführlich wie vor dem Unfall und dabei ist auch die linke, noch etwas bewegungsgehemmte Hand aktiv. Nach dem gewissenhaften Abtrocknen jeder Hand und zwischen allen Fingern geht es weiter: Mit einem Waschlappen wäscht er sich das Gesicht. Von ganz links bis ganz rechts, von oben bis unten. Das dauert zwar eine Weile, aber er scheint es richtig zu genießen, sich selbst so waschen zu können. Zweieinhalb Jahre lang fuhr täglich jemand mit einem Waschlappen durch sein Gesicht. Das hat er sich vor ein paar Monaten wieder zurückerobert! Er wäscht sich unter den Armen und trocknet sich ab. Dann reicht ihm Mama den Deostick, den er in eine Hand nimmt und den Deckel mit der anderen aufschraubt. Er deodoriert sich selbst, wechselt die Hände (meist muss man der linken Hand bei der Achsel rechts etwas helfen, damit auch überall was hinkommt) und schraubt den Deckel wieder drauf. Die Haare bürstet Toni sich ebenfalls selbst und seelenruhig. Sobald er damit fertig ist, kümmert sich Mama um die Tracheostoma Pflege. Auswechseln der Schlitzkompressen und dazwischen die Haut um den Patzhalter herum mit Stomaöl pflegen. Es folgt das Anziehen von Unterhemd und Oberteil und er kann ins Wohnzimmer gefahren werden. Vom Beginn der aktivierenden Pflege im Bett bis jetzt sind dann etwa 45 – 60 Minuten vergangen. Frühstück Dort am Esstisch sitzt er so zwischen halb zehn und elf (je nach Therapie) und isst sein Frühstück. Manchmal fragt er „Wo bleibt mein Kaba?“ oder er möchte Kaffee – total untypisch für ihn. Vor dem Unfall mochte er nie Kaffee. Getränke werden angedickt, mit dem Teelöffel gereicht oder er trinkt mit einem Trinkhalm. Mal mehr, mal weniger. Er stellt das Geschirr weg, wenn er nicht mehr essen möchte. Dabei hustet er manchmal und soll danach sprechen, damit die Stimmlippen wieder frei sind. Gestaltung des Tages / Aktivitäten Oft folgt nach dem Frühstück eine Ruhephase vor der nächsten Therapie oder Aktiv-Phase. Wird er wieder wach, bieten wir ihm Verschiedenes an und er wählt je nach Lust und Laune davon etwas aus. Mögliche Aktivitäten sind Spaziergänge in die Stadt mit dem E-Rolli oder zum Einkaufen in den Supermarkt. Zu Hause blättert er Kataloge und Prospekte durch, liest Zeitung oder eingetroffene Post. Wir machen Spiele mit ihm
Außerdem trainieren wir mehrmals täglich sein Gedächtnis – stellen Kopfrechenaufgaben oder versuchen das Alphabet mit Tieren, Städten, Ländern, Namen oder Nahrungsmitteln gemeinsam mit ihm aufzusagen. Aus den ihm angebotenen Aktivitäten wählt er frei. Manchmal wird durch eine Äußerung (z.B.: „Ich brauche meinen Führerschein“) von ihm deutlich, dass er nicht ganz in unserer Gegenwart ist. Geduldig führt Mama ihn dann durch seine Vergangenheit, er beantwortet Fragen zu seinem Alter, der Arbeitsstelle, dem Wohnort. Sie erklärt ihm dann, dass er einen Unfall hatte und derzeit im Rollstuhl sitzt, wir ein neues Auto haben und in einem anderen Ort wohnen, weil eine barrierefreie Wohnung unerlässlich ist. Welche Verletzungen er hat, kann er sagen und auch, warum es dazu kam. Auf die Frage, ob das Leben so – ohne Arbeit und mit Pflege zu Hause – schlimm für ihn ist, antwortet er kopfschüttelnd mit „Nein“. Wenn er eine gute Nacht hatte, ist er in seinen Aktiv-Phasen durchaus sehr ausdauernd. Meist folgt danach eine „verarbeitende Ruhepause“, wenn er mag auch im Wohnzimmer in der Lagerungsinsel liegend. Wir bieten auch immer wieder an, Physio-Übungen zu machen oder aufzustehen. Von uns beiden gestützt oder am Geh-Wagen durch den Flur bis in die Küche zu gehen. Einzig beim Gehen ist er ungeduldig und unzufrieden über die noch geringe Muskelkraft in den Beinen. Deshalb wird er einmal am Tag zum Fahrradfahren ans „Motomed“ gesetzt. Da kann er selbst treten, inzwischen auch schon mit höherer Belastungsstufe, um die Beinmuskulatur zu stärken. Danach kommen die Arme dran. Den linken Arm kann er nicht ganz strecken und hält ihn meist sehr nah und stark angewinkelt am Körper. Beim Kurbeln kann er sich auch mit dem linken Arm auf die Bewegung einlassen und meist auch den Kopf schön aufrecht halten. Erneut folgt dann eine kurze Ruhephase. Insbesondere beim Gehen oder Stehen ist Toni seine Zufriedenheit über das erreichte Ziel anzusehen. Tonis eigen-motivierte Aktiv-Phasen Inzwischen kann er selbst sagen, was er tun möchte. Manchmal fragt er nach einem Stift und Papier und versucht lesbar zu schreiben. Oder er fragt nach einem Schraubenzieher und dreht dann ca. 30 Minuten lang Schrauben irgendwo raus/rein. Er holt sich auch immer mal wieder ein Fotoalbum und blättert durch die Vergangenheit. Dabei spricht Mama mit ihm darüber. Sie fragt immer wieder nach, wer zu sehen ist oder was für eine Begebenheit das war. Er erinnert sich meist daran oder hört aufmerksam zu, wenn sie davon erzählt. Manchmal bewegt er auch seinen Rollstuhl unaufgefordert selbst durch den Raum, um das Radio einzuschalten. Einmal am Tag (mindestens) legt er die Kissen unter seinen Armen beiseite und zieht die Decke von seinen Beinen weg. Das Rascheln der Kissen hören wir immer – nicht selten gerade dann, wenn man selbst sich eben erst für einen Moment hingelegt hat ;-)! Auf die Frage „Was möchtest Du?“ kommt prompt „Ich geh jetzt aufs Klo!“. Ihn umzusetzen vom Rollstuhl auf das WC ist aufwändig und anstrengend. Vor allem, wenn es dann (wie derzeit noch) einfach nicht mit dem gewünschten Ergebnis endet. Aber wir fahren ihn hin, er hebt das Bein mit dem Beutel hoch und wir leeren direkt diesen in die Toilette. Mit der Fernbedienung für dieses Spezial-WC kann Toni dann selbst spülen. Ein Kompromiss – solange bis die Rumpfstabilität besser und die Fähigkeit zu spüren und noch zu halten, bzw. im richtigen Moment zu lassen - mehr trainiert werden konnte. Da fragt jemand nach, wie es Toni inzwischen geht. Ich spreche von Fortschritten, die enorm sind und uns freuen und überraschen. Die nächste Frage kann dann sein: „Ja, wann geht er dann wieder arbeiten?“
Bei Toni ist das anders. Aber wie genau? Heute also ein Versuch, das mal umfassend darzustellen: Physisch: Toni sitzt im Rollstuhl, weil seine Muskulatur nach der langen Wach-Koma-Phase erst langsam wieder aufgebaut werden muss. Er hat aber keine dauerhafte Lähmung. Eine lange Zeit war in seiner linken Körperhälfte ein starker Tonus, eine Krampfhaltung des Arms und auch des Beines. Die kann er inzwischen mäßig gut selbst auflockern. Doch wenn es ihm schlecht geht, er gähnt oder hustet kehrt der Tonus verstärkt in den linken Arm zurück. Noch immer ist die linke Körperseite seine stärker-betroffene Seite. Bei Hand und Arm ist das sehr deutlich. Die Rumpfhaltung ist asymmetrisch linkes etwas eingeknickt. Auch bei den Beinen spürt man, dass er links noch schwächer ist als auf der anderen Seite. Er trainiert den linken Arm in der Ergotherapie, die Rumpfmuskulatur in der Physiotherapie. Vor etwa einem Jahr wollte er plötzlich aufstehen. Seitdem trainieren wir das Stehen und Gehen auch von Zeit zu Zeit. Wiedererwacht: In Toni Fall würde ich nicht sagen, dass er „wieder aufgewacht“ ist. Dabei stellt man sich vor, wie wir morgens dem Wecker eins draufhauen, so langsam wieder alle Bewusstseins-Persönlichkeits-Stücke zusammensetzen, uns räkeln und anfangen, den Tag im Geiste durchzugehen. So ist er nicht aufgewacht. Die Wachkoma-Phase von Toni ging nach einigen Monaten in das von Ärzten diagnostizierte Apallische Syndrom über. Ich persönlich hatte oft auch den Eindruck, dass er möglicherweise sogar an dem „Locked in“-Syndrom leidet. Das mag zwar meine Einbildung sein, doch ich war früh überzeugt, dass er uns hört, versteht und erkennt. Nur war es ihm nicht möglich, sich mitzuteilen. Selbstverständlich nicht gleich durch Worte, aber auch nicht durch Gesten, kleine Augenbewegungen oder Ähnliches. Es dauerte lange, bis er das konnte. Nach dem „Nicken-mit-den-Augen“ kam langsam Leben in die rechte Hand. Er kehrte in seinen Körper zurück, Stück für Stück (und damit meine ich Millimeter für Millimeter) und über einen langen Zeitraum hinweg! Der Beginn war die rechte Hand. Inzwischen bewegt er sich mehr. Auch nachts im Bett, daher muss er nachts nicht mehr zwingend alle zwei bis drei Stunden gelagert werden. Während des langsamen Aufwachens sagte man uns in Allensbach, dass es besser sei, ihn nicht durch Besuchermassen zu überfordern. Es reagierte auf Mama und mich, wohl auf die bekannten Stimmen. Auch heute noch ist es ihm manchmal offenbar am liebsten, er hört unseren Gesprächen zu ohne daran teilnehmen zu müssen. Dabei ist er oft tiefenentspannt und schläft häufig ein. Die Zeiträume in denen er ganz da ist, aufmerksam im Hier und Jetzt, teilnimmt am Geschehen und vielleicht auch mal über Situationskomik lacht, wurden im Laufe der Jahre länger. Von wenigen Minuten am Tag auf mehrere Phasen verteilt bis zu heute mehrere Stunden am Stück. Je nach Tagesform variiert das natürlich. Sein Kurzzeitgedächtnis ist definitiv beeinträchtigt. Er erinnert sich selten daran, was gestern oder vor ein paar Stunden war. An seine Vergangenheit kann er sich hingegen sehr gut erinnern. Er erkennt auch Freunde und Verwandtschaft ohne Probleme. Gespräche mit Toni zu führen ist in der Regel ein Frage-Antwort-Spiel und geht häufig von uns aus. Wenn er sich mal zu Wort meldet, was natürlich auch vorkommt, dann möchte er entweder etwas verändern (Radio ausschalten, anderen Fernsehsender einstellen, ins Bett oder spazieren gehen) – konkrete Dinge eben. Oder er fängt an zu reden aus einer seiner „Innen-Reisen“ heraus. Beispielsweise fordert er Mama auf, den Monitor abzuklemmen oder die kleinen, schwarzen Magnetkontakte holen. Folglich ist er gerade auf irgendeiner Baustelle und ziemlich beschäftigt. Ein anderes Beispiel: Wenn er eine Zeit ferngesehen hat, kommt es häufig vor, dass er sich umdreht um uns dann zu verkünden: „Ich fahr jetzt nach Hause!" - "Wo ist das?" - "In Herbertingen!“ Das mit dem Schädel-Hirn-Trauma und seinen Fähigkeiten oder Einschränkungen ist wirklich nicht leicht zu erklären. Er ist – wenn er richtig da ist – immer noch schneller im Kopfrechnen als ich. Rommée spielen wir gern und er kann es so gut wie früher. Nur hält er die Karten nicht in der Hand, sondern steckt sie vor sich in einen Kartenbogen und das dauert eben etwas länger. Aber zu spielen ist dennoch möglich, so wie früher. Aber einem Gespräch über längere Zeit zu folgen, strengt ihn sehr an. Da nimmt er sich dann einfach raus, driftet irgendwie weg, ist in sich und schließt die Augen. Ihn von da zurückholen ist inzwischen immer möglich und er weiß dann auch meist, worum es geht oder kann Antwort geben, wenn er gefragt wird. Also hingegen meiner Befürchtung nach der Internetrecherche über Schädel-Hirn-Trauma-Patienten ist er vom Wesen und seiner Persönlichkeit unverändert. Das hätte auch ganz anders sein können: Dass er keinen mehr kennt, sich nicht an seine Vergangenheit erinnert, schnell wütend und aufbrausend ist, nichts mehr von seinem Charakter erkennbar ist. Mit all dem mussten wir rechnen. Deshalb sind wir so dankbar! Er ist trotz aller Veränderungen unverändert – wenn ihr versteht, was ich sagen möchte. Er hat große Fortschritte gemacht, mit denen niemand gerechnet hat und die im Grunde unmöglich oder zumindest unwahrscheinlich scheinen. Für uns ist das schon unglaublich viel! Jeder Arzt ist verwundert. Tonis Entwicklung ist Wunder-voll und seinem Ehrgeiz zu verdanken. Mir kamen die Tränen, als ich zum ersten Mal nach Jahren seine Stimme wieder hören konnte. Jedes Mal, wenn er meinen Namen sagt, bin ich gerührt und freue mich. Vor ein paar Monaten las Mama irgendetwas und hat nicht gesehen, dass er sich zu ihr wandte und den rechten Zeigefinger hob, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich saß dabei und wartete einfach ab. Er schluckte, holte Luft und sagte „Elfriede?“ – und Mama war völlig aus dem Häuschen. Wie elektrisiert und total begeistert sprang sie auf – das war richtig schön. Vor allem, weil er lächelte und sich über die Reaktion freute, die er durchs Sprechen ausgelöst hat. Ja, er macht Fortschritte. Nach der langen Zeit, in der auf jeden Fortschritt ein oder zwei Rückschläge folgten, sind wir froh, wenn alles so bleibt wie es jetzt ist. Er ist Toni. Aber eben die Version nach dem Unfall. Er kann und wird nie mehr so sein, wie davor. Das erwarten wir auch nicht. Bei seinen Zielen unterstützen wir ihn, trainieren das Gehen und Stehen, üben das Sprechen und Essen. Wir genießen die Zeit mit ihm. Er weiß, was passiert ist – zwar erinnert er sich nicht daran, aber er weiß, woher er die Narben auf dem Kopf hat und warum. Mama fragte ihn vor zwei Tagen, ob das Leben jetzt ganz schlimm für ihn ist und er antwortete mit einem Kopfschütteln. Wir sind wirklich zufrieden mit der aktuellen Ausgabe von ihm! P.S.: Frohe Weihnachten! <<2013
Am 30.09.2013 zieht Toni um nach Balingen. Das ist ziemlich kompliziert und aufregend. In der Intensiv-WG hat er ein Zimmer und sein eigenes Krankenbett. Die meiste Zeit des Tages liegt er im Bett, wird immer mal wieder anders gelagert. Etwa für 2 Stunden pro Tag wird er „mobilisiert“ und in seinen Rollstuhl gesetzt. Dort hat er auch Therapien, aber davon kriegen wir nicht so viel mit. Abgesehen vom Ablauf des Umzugstages muss ja auch im Vorfeld die Pflege mit dem ausgewählten Pflegedienst detailliert besprochen werden. Weil da eben so viel dranhängt und das Zimmer in der WG gekündigt ist, ist es unmöglich, den Umzugstermin zu verschieben. Das muss klappen, selbst wenn in der neuen Wohnung noch nicht alles fertiggestellt ist. Also kommt der Monteur vom Sanitätshaus kurz vor dem Transport in die WG nach Gomaringen. Toni wird in den Multifunktions-Rollstuhl geliftet und mit dem bestellten Rollstuhl-Transport vom KBF zusammen mit Mama nach Balingen gefahren. Ganz langsam und vorsichtig. In der Zeit wird das Bett abmontiert und nach Balingen transportiert. Dort warte ich auf den Bett-Monteur und lass ihn herein. Ungeduldig kann ich es kaum erwarten, zu sehen, ob die erste Fahrt im Rollstuhl gut verlief. Endlich kommt der Caddy langsam vor dem Haus zum Stehen. Ich renn hin und her, bitte die Arbeiter vorm Haus um Hilfe, ihn mitsamt dem Rollstuhl ins Haus zu heben. Noch sind die Außenanlagen nicht fertig, daher ist der Absatz mit 20 Zentimeter quasi unüberwindbar. Mama ist ruhiger und konzentrierter als ich, aber erschöpft von Missverständnissen mit den jetzt ehemaligen Pflegekräften. Es war nichts vorbereitet, so musste sie noch alles einpacken, was Toni täglich braucht und was folglich mit umziehen soll. Toni ist fest eingepackt, soweit ganz okay und wach. Die vier Männer packen gern mit an und plötzlich steht er mitten im Raum. Ist endlich da – was für ein unwirklicher Moment! Das Bett steht im Wohnzimmer, da das Schlafzimmer noch nicht bezugsfertig ist. Als alle weg sind und wir zu dritt im Wohnzimmer stehen, löst sich bei mir durchs Weinen die enorme Anspannung. Ein Pfleger vom künftigen Pflegedienst kommt vorbei. Er lernt Toni ein wenig kennen, der antwortet mal mit Grinsen oder Schulterzucken. Auch den Transfer von Toni vom Rollstuhl ins Bett übernimmt diese Pflegekraft. Allerdings startet die wirkliche Pflegeunterstützung erst in 7 Tagen. Jetzt erstmal wird Mama alles allein machen. Die Schienen für den Deckenlift können erst ein paar Tage später montiert werden. Glücklicherweise sogar einmal quer durch die Wohnung. Dort fängt es also an. Zwischen Umzugskisten und Pflegematerial liegt er im Bett und Mama schläft in der kommenden Nacht daneben auf dem Sofa. (Bzw. liegt, weil an Schlaf nicht zu denken ist. Anfangs laufen und brummen die Trocknungsgeräte noch stundenlang im Bad/Schlafzimmer. Wirklich ruhig ist das also nicht.) Soweit möglich haben wir uns alle nach ein paar Stunden auf die neue Situation eingestellt. Zu sehen, wie selbstsicher Mama umsetzt, was sie sich bestimmt im Vorfeld so oft ausgemalt hat, beruhigt mich. Genauso sehr wie Toni, der endlich bei uns ist und einen fast entspannten Eindruck macht. Zu der Zeit lesen wir vor allem aus seinem Gesichtsausdruck, der Kälte/Wärme seiner Hände und vor allem an seiner Pulsfrequenz, wie es ihm geht. Also mache ich mich nach insgesamt etwa 4 Stunden Umzugs-Pause wieder auf den Weg zur Arbeit. <2015>
Was zu "Tracheostoma" alles gesagt werden sollte, ist ziemlich komplex. Nähern wir uns dem Thema also in kleinen Schritten und kompakten Abschnitten. Heute: Der Zustand jetzt: Derzeit ist sein chirurgisch angelegtes Tracheostoma mit einem Platzhalter verschlossen. Dieser hält den Zugang zur Luftröhre noch offen, was im Bedarfsfall ein Absaugen ermöglicht. Das ist dann nötig, wenn er Sekret oder Speichel nicht selbst oder richtig abhusten kann. Vor einigen Tagen war das tatsächlich mal wieder soweit. Eine ganz lange Phase benötigte er diese Unterstützung nicht mehr. Das ging schon so lange, dass Mama sogar das Gerät eingepackt und verstaut hat, weil es nur rumstand und einstaubte. Im Unterschied zu Trachealkanülen dringt ein Platzhalter nur ganz gering in die Luftröhre (Trachea) ein. Der Übergang wird mit einem vorgeformten Rand, der sich von innen an die Luftröhre schmiegt fixiert. So kann nichts abrutschen. Ein Fixierungsband außen um den Nacken ist nicht mehr notwendig. Außen steht der Platzhalter etwas hervor, allerdings nicht mehr so weit wie früher die Kanüle samt Aufsatz (Sprechventil oder feuchte Nase). Diesen Platzhalter hat Toni bekommen, weil er die Kost meist zuverlässig gut (=richtig) geschluckt hat. Falls doch mal was „in den falschen Hals“ kam, hat er es immer hochgehustet. Inzwischen spürt er es sehr schnell, wenn da was schiefläuft. Fakt Nr. 1: Die Basis ist der kräftige und zuverlässige Hustenstoß! Mit dem Platzhalter atmet er dauernd über die oberen Atemwege, also Mund/Nase, kann sprechen, je nach Tagesform zusätzlich zur Sondenkost auch zum Genuss essen. Er isst breiige Konsistenzen (Pudding & Apfelmus, Kartoffelbrei mit Spinat und Eigelb, Hefezopf in Kaba getunkt, Marmeladenbrot ohne Rand). Seit er vor einem Jahr seine Zähne bekommen hat, ist vieles leichter geworden. Zu schlucken fällt leichter, wenn die Zunge innen an die Zähne anstoßen kann. Im Übrigen ist das Sprechen damit auch einfacher und er ist besser verständlich. (Ganz zu schweigen vom ästhetischen Eindruck!) Tonis Schluckreflex ist ja gestört, deshalb muss er durch das mühsame Schlucktraining hindurch. Dabei hilft natürlich, wenn er auch kauen kann. Vor allem aber muss er sich konzentrieren, wahrnehmen wo im Mund die Nahrung ist und dann bewusst schlucken, wodurch auch der Atem kurz unterbrochen wird. Am besten wenn er den Blick auf seine Knie richtet. Für die selbständige Nahrungsaufnahme gibt es bei uns feste Regeln: Klare Aufgaben für Toni und keine Ablenkung unsererseits während er isst! Das hat sich Toni dank vieler Therapie-Stunden und Mamas aufopferungsvoller Pflege bisher erarbeitet. Er frühstückt täglich. Manchmal stellt ihm Mama ein Glöckcken daneben und räumt währenddessen irgendwas auf. Wenn er sie braucht oder fertig ist, klingelt er einfach. Selbstverständlich zieht er sich greifbare Teller zu sich her und beginnt zu essen, wenn er das möchte. Ganz egal, ob das Teller auf einem Restauranttisch oder bei Familie/Freunden im Wohnzimmer vor ihm steht. Völlig egal, ob da Familie oder Fremde hinschauen - er genießt die Erdbeertörtchen oder Maultaschen mit Kartoffelsalat! Diese Selbstverständlichkeit ist beeindruckend - vor allem, weil wir davor über so lange Zeit beim gemeinsamen Essen spürten, dass er davon ausgeschlossen ist. Ein Mensch mit Tracheostoma fühlt sich in sehr vielen Situationen ausgegrenzt. Ich freue mich für Toni, dass er sich langsam davon freimachen kann! Was wir im Laufe von drei Jahren an Hilfsmitteln so alles kennengelernt haben - bestimmt fällt mir da noch etwas mehr ein... :-)
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August 2020
AutorIn den ersten dreieinhalb Jahren nach dem Unfall fast immer mit dabei |