Seit einigen Monaten hat Toni ja deutliche Fortschritte gemacht. Nicht nur wörtlich beim Geh-Training sondern auch in der Kommunikation.
Er spricht zwar nicht normal, aber seine kurzen Antworten variieren inzwischen und klingen eher wie gehabt. Kurz hatte ich das ja bereits erwähnt. Vielleicht war das früher auch schon so und wir haben es aufgrund der eingeschränkten Kommunikation (Ja/Nein/Schulterzucken) nicht als solches wahrnehmen können. In letzter Zeit jedoch fällt uns vermehrt auf, dass Toni auch immer mal wieder bewusster wird. Ihm wird wohl manchmal klar, in welcher Situation er ist und findet das manchmal traurig. Dass er im Rollstuhl sitzt, vieles nicht mehr so kann wie früher. Das ist neu für uns. Seine Trauer mitzutragen, ihm seine vielen Fortschritte aufzuzeigen, ihm erklären, dass er zu Beginn ja nicht mal die Nase kratzen konnte, wenn es ihn dort kitzelte. Gleichzeitig erhalten wir durch die umfassenderen Antworten jetzt auch ein deutlicheres Bild davon, wo er sich „im Geiste“ aufhält, wenn er offensichtlich nicht unsere Realität teilt. Mama sagt dazu: "Er ist in seiner Welt." - dort ist er die meiste Zeit des Tages. Auf Nachfrage erzählt er dann, wo er gerade wohnt (und dadurch wird klar, in welcher „Zeit“ seiner Vergangenheit er sich befindet) und was er da macht, auf welcher Baustelle er arbeitet, wen er besucht. Wenn er sehr angestrengt, angespannt und unglücklich wirkt, fragt Mama nach, ob es dort schön ist. Wenn nicht, dann versucht sie ihn zurückzuholen und abzulenken. Fernsehen (Naturdokumentationen, Reiseberichte, etc...) ist da das effektivste Mittel. Gerade wenn er Gespräche mitbekommt, scheint er sich mehr Gedanken um seine Situation zu machen und ist dann traurig. Das ist ja eigentlich völlig „normal“ und nachvollziehbar. Im Grunde ist es sogar ein schöner Fortschritt. Dennoch ist es in gewisser Weise neu und wir müssen uns erst einmal darauf einstellen, mit der Trauer nicht mehr allein zu sein. Insofern also ein "mehr" an bewusst sein - sowohl für Toni in kurzen Momenten als auch für uns "zu Besuch in seiner Welt". Der letzte Eintrag ist schon ne Weile her... und es hat sich vieles verändert, auch wenn es nichts Sichtbares ist.
Inzwischen sind es 5 Jahre seit dem Unfall. Vier Jahre Pflege zu Hause. Mit Höhen und Tiefen. Ein Hoch ist definitiv die Tagespflege. Ein Tief, dass oft das Auto streikte und es gar nicht möglich war, ihn dorthin zu bringen. Ein HOCH: Unser Hund hat sich in unser aller Herz geschlichen und bringt uns Freude, Lebendigkeit und auch Entspannung. Ein Tief: Jeder Atemwegsinfekt bei Toni weckt die Sorgen, die nie allzuweit weg sind und nie wirklich tief schlafen. Ein HOCH: Tonis Ausdauer sowohl bei körperlichen als auch bei geistig fordernden Dingen (Arm/Bein-Trainer oder Solitär am PC oder Rommée mit uns) nimmt zu. Ein weiteres HOCH: Eine Fach-Pflegekraft unterstützt Mama einmal pro Woche für 6 Stunden. In dieser Zeit kann sie mal raus (Friseur- oder andere Termine wahrnehmen, einfach kurz mit dem Hund raus, etc...) Ein Tief: So langsam sinkt unsere Belastbarkeit trotzdem immer weiter unter Null. Das ist auf Dauer beängstigend. Ein Hoch: Möglicherweise durch den Kontakt mit den anderen Tagespflege-Genießenden und deren Betreuern in einer für Toni fremden Umgebung hat er mehr Kommunikationsbereitschaft. Oft spricht er nun in ganzen Sätzen (unaufgefordert). Noch ein Hoch: Immer öfter wünscht er Mama "Gesundheit" wenn sie niesen musste. Bei manchen Telefongesprächen, die er am Lautsprecher mithören kann, hatte ich den Eindruck, dass auch sein Mitgefühl wieder zurückkommt. Ein Tief: Die Erkenntnis: wir wissen uns so komplett aus unserem (Vor-Unfall-)Leben herauskatapultiert und nach langem Hadern akzeptieren wir nun, dass es auch für uns kein Zurück mehr gibt. Das klingt sicher paradox. Ist doch seit 5 Jahren nichts mehr wie vorher. Das ist ja nun keine "große Überraschung". Nein, eigentlich nicht. Doch innerlich haben wir gerade um Weihnachten herum viel zu verarbeiten gehabt. Eine andere Angehörige eines Tracheostoma-Patienten berichtete am Telefon, wie sich ihr Bekanntenkreis verändert/verkleinert hat, weil es manche vielleicht einfach nicht mehr hören können. Das ist einfach DER Punkt, der es so schwer macht, das "alte Leben" weiterzuführen: Das Tracheostoma, die Trachealkanüle oder eben der Platzhalter! Die ständige Angst und (bei der Pflege zu Hause) die Verantwortung dafür, dass der Patient weiteratmen kann... weil sonst... Alles andere wird mit der Zeit "normal", man kann lernen damit umzugehen. Aber wie gesagt, auch die Dame, die sich mit meiner Mutter ausgetauscht hat, weil sie vom Bundesverband der Schädel-und-Hirn-Patienten in Not e.V. an Mama verwiesen wurde, hat vor allem damit zu kämpfen. Das Trachestoma katapultiert uns Angehörige ins Off. Die ständige Alarmbereitschaft zehrt an den Kräften. Obwohl es uns in "unserer Welt" rund um Toni soweit gut geht, kommt eben bei mir persönlich noch die Arbeitsanforderung hinzu. Ein Spagat zwischen Arbeit und Pflege, den ich demnächst hoffentlich etwas entkrampfen kann. Wenn alles klappt, kann ich bei der Arbeit reduzieren, Mama bei der Pflege mehr unterstützen und etwas Luft für mich selbst haben. Trotzdem schmerzt gerade zu Familien-Festen wie z.B. Weihnachten oder Geburtstagen das Bewusstsein, wie sehr auch wir verändert wurden. Dabei geht es nicht darum, uns halt mal zusammenzureißen und einfach mal gesellig sein zu WOLLEN. Es ist schlicht eine Frage der Energie. Und sämtliche Energie brauchen wir inzwischen, um den Alltag zu bewältigen. Vielleicht haben wir zu lange funktioniert. Wir haben erst jetzt verstanden, dass unsere Erwartung an uns selbst völlig unerfüllbar ist. Ich dachte immer, mir ist es möglich, wieder "normal" zu werden - im Sinne von: ganz einfach wieder als Tante oder Freundin am Leben anderer teilnehmen zu können, ohne dabei ständig Trauer und Verlust zu spüren, die ich nicht verarbeiten kann, weil dafür keine Energie bleibt. Um so wichtiger, sich mit anderen Betroffenen und Angehörigen auszutauschen. Damit sich Angehörige nicht im Off isoliert fühlen, sondern wissen: sie sind nicht allein! Januar 2017
Am heutigen Sonnentag erscheint vieles nicht mehr ganz so hoffnungs- oder aussichtslos. Vor allem, da das alte Jahr von uns in gemütlich-ruhiger Zurückgezogenheit verabschiedet und ein Besseres begrüßt wurde. Der Jetzt-Toni selbst ist von Silvester meist völlig unbeeindruckt, mag ins Bett, wenn er müde ist und schnarcht über die Knallerei hinweg. Das ist gewöhnungsbedürftig, aber so läuft das halt bei uns. Allerdings hat er wirklich häufiger klare Tage. Damit meine ich Tage, an denen er eben nicht "neben der Kappe" ist. An seinem Geburtstag waren wir alle total überrascht. Dass er am Telefon mit Gratulanten spricht (nicht nur "Ja", "Gut", "Okay", "Danke", "Ade" sondern richtige Antworten gibt: "Mach weiter so gute Fortschritte!" - "Haben wir vor!"), ist wirklich erstaunlich. Ihm war auch total bewusst, dass es sein Geburtstag ist. Sein 61. wohlgemerkt, auch das war ihm immer präsent. Beim Telefonklingeln hat er sich merklich vorbereitet und gefreut, weil er offensichtlich wusste, es kann nur wieder ein Anruf für ihn sein. In der Mittagspause gratulierte ich ihm und fragte nach, wie der Vormittag war. Er konnte aufzählen, wer alles schon angerufen hat und von wem er eine Mail erhalten (von Mama vorgelesen bekommen) hat. "Was hat sie gesagt?"- "Gratuliert!" An manchen Tagen erzählt er viel, aber das mag nicht immer stimmen, aber an seinem Geburtstag erinnerte er alles richtig! Das war für uns unglaublich. Eigentlich sogar unbegreiflich. Weil es einfach so gegensätzlich zu dem ist, was wir über lange Zeit beobachteten und worüber wir uns Sorgen machten. Es wäre schön, wenn das immer so wäre. Das ist es jedoch selten. Ich war total baff, wollte mir aber nicht allzugroße Hoffnungen machen. Aber immerhin ist es zu gewissen Bedingungen möglich, dass er eine länger anhaltende Klarheit an den Tag legen kann. Allein das ist ja schon überaus erleichternd und erfreulich! Seltsamerweise wusste er am nächsten Tag nichts mehr davon. Weder dass er Geburtstag hatte, noch dass er am Telefon mit manchem gesprochen hat. Doch am übernächsten war die Erinnerung nochmals da. Nun ja, ich habe aufgehört, es verstehen zu wollen. Es war so und wir alle haben uns darüber gefreut. Vielleicht wird es auch mal wieder so. An den allermeisten Tagen sind sowohl Klarheit und Nebel im Wechsel vorhanden. <2016>
Die Hoffnung, dass durch den Hund noch etwas mehr oder länger Aufmerksamkeit und Wachheit bei Toni gefördert wird, hat sich bisher nicht erfüllt. Neulich habe ich etwas über die Empathie-Fähigkeit gelesen und dass dafür die Hirnrinde „zuständig“ ist. Deshalb wundere ich mich nun nicht mehr darüber, dass wir das an Toni seit dem Unfall vermissen. Schließlich war die Hirnrinde bei Toni zeitweilig ganz aus der Form geraten. Statt der üblichen vielen Kurven und Kehren war es bei ihm – wie mir Mama 2013 nach einem der bildgebenden Untersuchungsverfahren berichtete – einfach nur eine Linie. Das hat sich wohl auch wieder verändert, kann aber sicher nicht so wie vor dem Unfall sein. Eine nachvollziehbare Erklärung für unsere Beobachtungen. Folglich „kümmert“ ihn vieles nicht so direkt. Zwar nicht immer, aber doch meistens ist da wenig Interesse für andere vorhanden. Oder es ist einfach nicht genug Kapazität oder Konzentration übrig für mehr als die eigenen Befindlichkeiten körperlicher oder geistiger Natur. Immer mal wieder ist er mit den Gedanken und seinem ganzen Wesen „bei der Arbeit“. Da braucht er Werkzeug oder Bauteile, Schaltpläne oder Leitern, Stecker, Schalter oder den Garagenschlüssel – was auch immer… Und ein Hund taucht bei seinen geistigen Arbeitseinsätzen nie auf. Aber er weiß, dass der Kleine da ist. Umgekehrt scheute der Hund nie vor dem Rollstuhl zurück. Auch bei Spaziergängen läuft er gern auch direkt beim Rad. Manchmal legt er sich einfach neben dem Rollstuhl hin. Irgendwie hat er wohl schnell begriffen, dass Toni niemals lange alleingelassen wird. Insofern ist es für ihn nicht schlecht, sich da in der Nähe aufzuhalten. Nur wie gesagt, viel Interaktion zwischen den beiden gibt es bislang nicht. Vor Kurzem allerdings hat er gebellt, als Toni im Begriff war, etwas Untypisches zu tun. Ich glaube er wollte erneut den Rollstuhltisch abbauen. Das war sehr hilfreich und ein gutes Gefühl. Das Bellen ist nämlich lauter und kommt VOR dem Scheppern, Poltern oder Knallen. So haben wir also Zeit zu rennen, um das Schlimmste zu verhindern. Da ist uns noch der Schock von seinem Auf-Steh-Versuch noch viel zu deutlich in Erinnerung. Nochmals so eine Aktion, wo wir ihn vom Boden aufklauben, ins Krankenhaus fahren und dann stundenlang versuchen die Blutung der Nase zu stillen? Nein, danke! Bitte nicht! So ist „das Hundle“ also für uns ein Auf-Toni-Achten-Helfer, mit seiner freudigen Energie ein Stimmungs-Aufheller und im Notfall ein Achtung-da-ist-was-Beller! Gerade eben allerdings hat Toni den (frischgewaschenen) Hund auf dem Schoß gehabt und mit beiden Händen gestreichelt und dabei geschmunzelt. :-) Vielleicht kommt da mit der Zeit noch mehr... 2016
Nachdem wir alle drei gerade mit den Auswirkungen einer Erkältung - in Toni's Fall einer Bronchitis - zu kämpfen haben, ist der allgemeine Zustand treffend mit kraft- und saftlos zu bezeichnen. Irgendwie reicht's. Sowohl meiner Mutter als auch mir. Deshalb kann ich auch nicht so tun, als wäre alles leicht und einfach. Klar, es könnte schlimmer sein und es gibt vieles, für das wir dankbar sind. Doch irgendwie muss auch mal raus, dass es wirklich anstrengend ist. Kräftezehrend und dass wir schwer damit klar kommen, zu akzeptieren, dass es nun - zumindest geistig - nur noch um "Standerhaltung" geht. Nichts was wir tun können, kann daran etwas ändern. Es wäre schön, wenn wir die Stecker neu verkabeln und ihn einfach rebooten könnten. Stattdessen müssen wir zusehen, wie er immer weiter versinkt. Ist das Demenz? Oder einfach nur die "normale" sprich zu erwartende Schädigung seiner geistigen Fähigkeiten aufgrund des Schädel-Hirn-Traumas? Wir sind jetzt schon geraume Zeit immer irgendwie in Alarm-Bereitschaft, da eine Veränderung im Verhalten oder der Persönlichkeit, die spontan auftritt, ja immer auch ein Hinweis auf eine Veränderung der (ich nenne es mal) Hirn-Situation sein könnte. Beispielsweise kann zu viel oder eben zu wenig Liquor abfließen, was sich dann durch eine Veränderung des Hirndrucks eben auch durch Schmerzen oder plötzliche Veränderungen seines Zustandes äußern könnte. Aber alles was wir beobachten, ist so minimal-dosiert, dass es möglicherweise wetterbedingt sein kann. Oder dass durch einen Harnwegsinfekt eine Verwirrung auftritt. Oder es ist eben einfach das schon geschädigte Gehirn, das jetzt vielleicht doch auch noch dement zu werden scheint. Toni hatte mehrere Tage Fieber und kaum eine hörbare Stimme. Die Erkältung legte sich bei ihm im und um den Kehlkopf nieder. Er halluzinierte wohl auch, denn er bat uns mitleiderregend krächzig, doch bitte die Musikanlage auszuschalten. Erst fragte er meine Mutter. Dann später mich direkt, fast flehentlich. Durch das Fieber hatte er wohl Ohrgeräusche oder Halluzinationen, jedenfalls war es ruhig. Nichts war an, kein Fernseher, kein Radio - nichts. Und er wollte so verzweifelt, dass wir endlich ausschalten, was er hörte. Was tun? Wie soll man da beruhigen? Ich finde es ja schon zu "gesunden", also an fieberfreien Tagen, schwierig, mit seinen Wünschen umzugehen. Oftmals ist entweder eine Melde- oder Alarmanlage zu reparieren, wofür er einen Schaltschlüssel oder sonst etwas braucht. Neulich zeigte er auf den Rauchmelder an der Decke und berichtete meiner Mutter, dass dieser sabotiert sei. Irgendwie ablenken. Aber auch das kostet Kraft. Die Situation, dass wirklich alle angeschlagen sind, hatten wir so noch nicht. Entweder war ich erkältet, oder ich und Toni. Meine Mutter hielt sich immer tapfer. Doch dieses Mal ist wohl einfach zu viel Unnötiges vorgefallen. Das hat nicht mal vorrangig was mit Toni und der Situation zu tun. Das Drumherum ist einfach zuviel gewesen. Nicht zuletzt der Auto-Auffahr-Unfall, den sie nicht verschuldet und glücklicherweise unverletzt überstanden hat. Aber deswegen mussten wir 3 Wochen lang auf das Auto verzichten und hatten keine Möglichkeit, mit Toni mal zum Einkaufen oder irgendwo sonst hin zu fahren. All das war einfach zu viel. Deshalb: uns reicht's jetzt. Das jetzt eher so eine Ansage ans Universum und/oder Gott: Entweder brauchen wir jetzt eine Super-Power-Batterie-Blitz-Aufladung oder eben einfach ausreichend Zeit, um von allein wieder aufzutanken, bevor wir bereit sind, für den nächsten Schlag. Wir haben vor, das Jahr jetzt so gut wie möglich zu Ende zu bringen und nur das Nötigste noch zusätzlich zum Alltag anzugehen. Ich hoffe, dass sich Mama trotz des Schlafmangels aufgrund der Pflege und der durchhusteten Toni-Nächte mit unterirdischer Sauerstoffsättigung, bald ganz erholen kann. Deshalb und einfach weil es reicht: Alles was nicht irgendwie existentiell ist, wird warten müssen. Besuche oder längere Telefonate zählen da ebenso dazu, wie der alljährliche Weihnachtstrubel. Den haben wir auch in diesem Jahr abbestellt, weil es für uns anders gar nicht geht. Ich bitte um Verständnis. Wir sind nicht zum Grinch und Co. geworden und wünschen natürlich allen eine schöne Vor- und Weihnachtszeit. Aber wir müssen einfach schauen, woher wir wieder Saft bekommen - Lebenskraft, Zuversicht, so was halt. <2016>
Zum Schreiben komme ich gerade selten. Vielleicht ist das aber auch nur eine faule Ausrede? Seit dem Unfall vor bald exakt vier Jahren gab es viele Höhen und Tiefen, aber immer eine leichte Tendenz Richtung Besserung. Möglicherweise sind wir jetzt am besten Punkt der Besserung angekommen? Das ist bei diesen minimalen Veränderungen, die sich oft über einen längeren Zeitraum hin entwickelten, gar nicht so einfach festzustellen. Und es heißt nicht, dass Toni sich muskulär nicht noch steigern kann. Ganz im Gegenteil. Inzwischen fährt er das Motomed mit großem Widerstand, was natürlich anstrengend ist, aber er gibt nicht auf, sondern macht da mit großem Willen weiter. Schwerer zu akzeptieren ist das Stagnieren der „geistigen“ Fortschritte. Ich tu mir ganz schwer damit, zu begreifen, dass er enorme Fortschritte gemacht hat und trotzdem durch das Trauma und/oder die Operationen gewisse Schäden am Gehirn geblieben sind. Vielleicht hat Toni in dieser Hinsicht einfach das Ende der Fahnenstange erreicht? Es ist bitter, weil ich trotz all der üblen Aussichten irgendwie immer gehofft hatte, er würde wieder mehr so wie früher sein können. Aber das geht wohl echt nicht. Stattdessen wird er kräftiger und setzt seinen Kopf durch. Das bedeutet, dass man inzwischen gut aufpassen, was er anstellt. Einsichtig kann er leider nicht immer sein. Ich bin ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Phasen seiner Wachheit sich nach und nach immer weiter ausdehnen werden, bis er vielleicht 4 Stunden am Stück mal so ganz da ist, am Gespräch teilnimmt oder dem Gespräch folgt. Dann eine Ruhephase und dann wieder eine längere Wach-Zeit. Das hätte ich akzeptabel gefunden. Das Leben hält sich nur nicht an die von uns geschmiedeten Pläne… da kann bestimmt jeder ein Lied darüber singen! Tja, und weil es dauert, das zu benennen, es zu verarbeiten und dann darüber zu schreiben, dauert es hin und wieder etwas länger, bis hier im Blog neue Beiträge erscheinen. <2016>
Der Sommer hat uns bis jetzt ganz gut durchgeschüttelt - wenn auch zum Glück nichts Schlimmes passiert ist. Immer mal wieder treten die "geistigen Abwesenheiten" von Toni deutlich zu Tage. Meist können wir ihn aber wieder in die Gegenwart zurück führen, oder er ist nach kurzer Zeit auch wieder wirklich da. Das alles sicher als Folge des Schädel-Hirn-Traumas. Vor einigen Wochen war das "Zurückholen" nicht möglich. Da hatte er lange Phasen, in denen er weg war. Überzeugt, sich gerade an einem anderen Ort zu befinden, sich mit einer anderen Frau verheiratet zu wissen... völlig weg. Meiner Mutter sorgte sich ernstlich, als er über Kopfschmerzen klagte und sich nicht abbringen ließ, irgendjemanden anzurufen, den auch nur er in dem Moment kannte. Über Nacht hatte sich das nicht verändert oder verbessert, so dass auch ein Therapeut das für "nicht mehr normal" einstufte. Bei Bewusstseins-Eintrübung, Kopfschmerzen und sonstigen Veränderungen müssen wir hellhörig sein. In diesen Fällen könnte eine Störung des Shunts vorliegen. Der Hirndruck würde ansteigen, weil nicht ausreichend Liquor abfließt. Da ist ein rasches Handeln wichtig. Natürlich waren wir da völlig in Sorge. Eine Neu-Einstellung des Shunts oder gar eine Funktionsstörung und eine erneute Operation? Keine schöne Vorstellung! Am selben Tag noch fuhren wir also in die Klinik als Notfall zum CT. Glücklicherweise konnte im Gehirn keine Ursache für seine auffällige Verhaltensveränderung gefunden werden. Im Vergleich zu den Bildern seit der Unfall-Operation war sogar ein geweiteter Ventrikel wieder zu normalem Maß zurückgegangen. Also soweit positive Entwarnung, aber noch immer keine Antwort auf die Frage nach der Ursache seiner fast dement-artigen Verwirrtheit. Der Tipp in der Klinik: Harnwegsinfekte können ebenfalls Verwirrung verursachen. Das war uns neu, wurde sofort geprüft, war aber nur minimal nachweisbar. Auf eine Antibiotika-Behandlung (mit den ganzen Nebenwirkungen, die Toni dabei bisher immer zeigte) verzichteten wir. Mit viel Flüssigkeitszufuhr wurde es dann nach einigen Tagen wieder besser. 2016
In Kürze feiern meine Eltern Hochzeitstag. Schon seltsam, jetzt den Unterschied zu sehen im Vergleich zu früher. Da waren die beiden partnerschaftlich verbunden. Das geht bei Gesprächen los und endet bei weitem nicht mit dem Umsetzen gemeinsam geplanter Ideen. Es war so leicht vor dem Unfall. Was immer gerade war, auf Toni konnte man sich verlassen. Er hat es unaufgeregt geregelt, gelöst, repariert, erledigt. Jetzt ist sie allein mit allem. Sogar schon ein Zehntel dieser langen Ehe-Zeit erlebt Mama nun schon ohne Toni als Partner auf Augenhöhe. Ich versuche schon, abzufangen, soviel mir möglich ist. Aber ihn zu ersetzen schafft einfach keiner. Wenn was mit dem Auto nicht stimmt oder ein Schrank sich gegen das Abbauen wehrt oder die ganzen super-tollen technischen Geräte nicht so funktionieren wie sie sollen – dann fehlt der Toni von früher. Auch mir fehlt Toni manchmal als Gesprächspartner. Dass ich ihm von etwas erzählen kann und seine Meinung dazu höre. Seine Unterstützung spüre oder wenigstens das Mittragen. Das kann er derzeit leider nicht. (Noch nicht? Hoffentlich!) Gespräche mit ihm laufen immer noch so, dass wir viel davon abnehmen. Wir erläutern die Situation, geben sämtliche Antwort-Möglichkeiten vor und er entscheidet sich dann für eine Antwort. Früher hat er darauf eben mit den Augen oder dem Kopf Ja / Nein oder ein Schulterzucken als Antwort gegeben. Selten geht ein „Gespräch“ von ihm aus. Neulich fragte er sie: „Gehst du heute noch einkaufen?“ oder er sagt: „Gesundheit!“ wenn sie niest oder „Gute Nacht!“ falls er noch wach ist, wenn sie sich schlafen legt. Aber das sind ganz seltene, besondere Momente – deswegen erinnern wir uns da so gut dran. Mir wollte lange nicht in den Kopf, dass er vieles einfach nicht mehr weiß, nachdem ein paar Stunden vergangen sind. An die Erlebnisse vom Vortag erinnert er sich nicht. Das waren in all der Zeit vielleicht 4 Begebenheiten, wo er es noch wusste und uns damit verblüffte. Meistens weiß er mittags nicht mal mehr, was er zum Frühstück gegessen hat – das frag ich ihn täglich. Und – wie schon einmal gesagt – manchmal erkennt er mich nicht. Da gibt er mir die Hand, spricht mich mit irgendeinem Namen an. Nach einer Weile döst er weg und schläft. Gestern wachte er dann aus dem Nickerchen auf und hat mich interessiert beobachtet und wusste wieder, wer ich bin. Toni ist quasi teilzeit-abwesend. So ganz erkenne ich das nicht immer. Mama schon. Vielleicht will ich das auch nicht wahrhaben, dass er in dem Moment, in dem ich ihm was Erzählen oder ihn zum Lachen bringen will, einfach nicht mit dem ganzen Hirn bewusst dabei ist. Mir kam gestern ein Gedanke: Ob das wohl daran lag, dass er 2013 nochmals eine Shunt-OP brauchte? Vielleicht war dabei der Hirndruck über längere Zeit unbemerkt erhöht und hat noch etwas mehr verletzt? Selbst wenn - jetzt ist es so. Wenigstens bedeutet das, dass er auch in Teilzeit „anwesend“ und ganz bewusst & wach sein kann. Das ist immer noch besser, als völlig in sich eingeschlossen oder gänzlich ohne Teile seiner „alten“ Persönlichkeit zu sein. <2016>
Den Zustand seiner Aufmerksamkeit (oder vielmehr zeitweiligen geistigen Abwesenheit) nachdem Toni aus dem Wachkoma "wiedererwacht" ist, mache ich heute mal zum Thema: Ich könnte nicht sagen, dass er im Durchschnitt täglich soundsoviele Stunden abwesend ist. An manchen Tagen hat er Schlaf- und Wach-Phasen und ist stets ansprechbar. Es gibt aber auch Tage, da ist er überwiegend in sich gekehrt und einfach nicht ganz "da". Es schwankt ziemlich und noch ist mir nicht klar, ob es daran liegt, wie gut und erholt er sich nach der vorangegangenen Nacht fühlt oder ob es am Wettereinfluss liegt. Ich weiß auch gar nicht, ob ich es schaffe, diesen Zustand verständlich zu machen… In diesem Zustand sind seine Augenlider auf Halbmast, die Augen bewegen sich dauernd hin und her und was auch immer sie sehen mögen - es findet nicht in der Realität statt, die wir miteinander teilen. Taucht er daraus wieder auf, hat er uns seit neuestem oft dringlich etwas mitzuteilen. Das ist meist aber so schnell und undeutlich artikuliert, dass wir geduldig mehrfach nachfragen müssen, bis wir uns langsam zusammenreimen können, was eigentlich bei ihm los ist. „Kannst du mir bitte den Kellerschlüssel bringen?“ - „Was brauchst du aus dem Keller?“ - „Die Leiter.“ - „Warum musst du auf die Leiter?“ - „Draußen bei der Alarmanlage.“ - „Was musst du dort machen?“ - „Den Mikrochip ausbauen und hier drinnen einbauen.“ Oder: „Ich brauche drei von den kleinen schwarzen Magnetkontakten.“ Oder: „Der Schalter von der Glasbruchmeldeanlage muss ausgetauscht werden.“ Oder: „Bringst du mir meinen Führerschein?“ – „Wozu brauchst du den?“ – „Auto fahren.“ – „Wer fährt (also wer sitzt am Steuer)?“ - „Ich!“ Oder der Klassiker seit ein paar Monaten: „Was hast du heute gemacht?“ – Toni: „Ich war im Hallenbad!“ Kommt es zu solchen Kollisionen verschiedener Realitäten, versucht Mama, ihn langsam wieder an unsere Wirklichkeit heranzuführen. Sie stellt ihm Fragen über den Stand seiner körperlichen Fähigkeiten, ob er denn gerade wirklich eine Leiter hochsteigen könnte. Warum das so ist, was bei dem Schädelhirntrauma passiert ist. Und sie sagt ihm, dass er in Gedanken gern weiter an der Alarmanlage herumbasteln kann, aber eben in Gedanken. Nicht wirklich wirklich. Deshalb holt sie jetzt weder eine Leiter noch schiebt sie den Rollstuhl nach draußen zur nichtexistierenden Alarmanlage. Im ersten Moment ist es witzig, was er da so aus dem Nichts heraus erzählt. Es fehlt ihm auch noch die Übung, so dass Worte wie „Brandmeldezentrale“ lustig klingen. Nicht selten muss ich mich zusammenreißen, um nicht zu lachen. Vor allem, weil wir uns noch immer nicht an die positive Tatsache gewöhnt haben, dass er von sich aus einfach zu Sprechen beginnt. Nicht immer haben wir die nötige Geduld und Kraft, ihm den Unfall und die Veränderungen im „Leben jetzt“ im Vergleich zum „Davor“ zu erklären. Manchmal hilft es auch, ihn dann einfach mit etwas anderem zu beschäftigen. Nicht immer, aber recht oft lässt er sich ganz gut ablenken. Es sind für ihn ja keine Tagträume oder Gedankenreisen. Es ist kein Luftschlossbau und auch kein Wunschdenken. Aus irgendeinem Grund rutscht manchmal seine Aufmerksamkeit auf eine andere Spur und folgt Erinnerungen, Erlebnissen oder sonst etwas aus dem Fundus seines Gehirns. Für ihn ist das dann real, so wirklich wie die Brille auf seiner Nase. <<2014
So ein Schlucktraining ist ziemlich komplex. Irgendwann 2014 erzählte mir Mama, dass Toni von seiner Logopädin Gesichtsgymnastik aufgetragen wurde. Vermutlich zum Muskeln reaktivieren, aufwecken, gezielt benutzen. Wie und warum auch immer: es ist eine ideale Gelegenheit für mich, mit Toni Blödsinn zu machen! Ich bringe mich auf Höhe seines Gesichtes, ziehe die Augenbrauen hoch und er macht es nach. Dann wird die Nase gerümpft oder gekräuselt – erst ich, dann er. Breites Grinsen, Augenbrauen zusammenschieben und dadurch ganz finster und böse wirken, Zunge rausstrecken… Immer mal wieder machen wir das. Manchmal schaut er einfach rüber, nimmt genau wahr, was wir in dem Moment tun. Fange ich da seinen Blick auf, ist er „voll da“. Ich zieh eine Grimasse und er grinst. Manchmal ist das während Mama und ich essen. Und ja, manchmal habe ich dann so „pantomiert“ als wäre das Essen überhaupt nicht lecker – natürlich nur, wenn Mama gerade nicht im Raum war! Vielleicht auch nur bei den Speisen, die er immer so gern mochte. Es ist schon gemein, da zu sitzen und Pfannkuchen zu essen (oder sonstigen Kuchen) und dabei von ihm beobachtet zu werden, der in dem Moment keinen Kuchen essen darf/kann! Immer wenn ich vorgebe, es wäre nicht lecker und mir wäre übel vom Essen, lachte er. Anfangs nur so ein ganz leises Schnauben und ein breites Grinsen. Nicht selten floss dabei der viele Speichel über. Eine gute Gelegenheit zur Übung für ihn, sich den Mund mit einem Tuch abzuwischen. Wenn er nicht damit rechnet, lacht er auch über eine plötzlich rausgestreckte Zunge. Nach ein bisschen gutem Zureden, streckt er dann die Zunge auch so langsam raus. Wann immer möglich nutze ich seine Wachheit für Unfug und nicht lange, da macht er das auf Zuruf: „Naserümpf“ „böse Augenbraue“ „Grins“ „Augenbraue hoch“ Für mich ist das total cool, ich lache jedes Mal und freue mich riesig darüber, dass er entweder meinen Gesichtsausdruck sehen und imitieren kann oder genau verstanden hat, was ich sage und er das so schnell umsetzen kann. Da er 2014 nicht deutlich sprechen kann, ist diese Reaktionsfähigkeit ein ziemlich gutes Beispiel dafür, dass er trotz Schädel-Hirn-Trauma NICHT extrem matschbirnig ist. Oft bespreche ich dann mit ihm, den "Trick" später auch Mama vorzuführen, wenn sie dann wieder zurück in den Raum kommt. Manchmal klappt das, manchmal nicht. Es kommt auf die Dauer des Einübens/Erarbeitens und der anschließenden Wartezeit an. Je nachdem wie anstrengend das war, schläft er beim Warten ein. Dabei ist ein Nickerchen nach einer Aktiv-Phase durchaus wichtig. So wird das Gelernte im Gehirn gespeichert. Ich kann mich noch genau erinnern, wie im Herbst zum ersten Mal ziemlich viele Familien-mitglieder bei uns zu Besuch waren – zum Teil auch Toni seit dem Unfall das erste Mal wiedersahen. Da war das ganze Wohnzimmer voll und er grinste breit. Da rief ich ihm das Kommando „böse Augenbraue“ zu und er demonstrierte vor versammelter Mannschaft seine Macht über die eigenen Augenbrauen. :-) Abschließend möchte ich dazu noch sagen, dass ich da lange „naserümpf“ rufen kann und nichts passiert, wenn er keine Lust dazu hat. Es klingt nur ein wenig nach „abrichten“ – ist vielmehr ein gemeinsames Training. Solange er sich ab und zu auf dieses Niveau einlassen kann, über blöde Grimassen oder Witze schmunzelt und selbst Grimassen zieht, ist mit dem Shunt (Hirndruck) alles in Ordnung! Gerade an eher müden Tagen käme bei andauernder Dumpfheit sonst bei uns Sorge auf. <2015>
Der Tag von Mama & Toni beginnt ruhig und es kann auf ihn eingegangen werden, sofern nicht gleich früh am Vormittag eine Therapiestunde angesetzt ist. So kann er entscheiden, wann er aufstehen möchte. Pflege am Morgen Zweimal in der Woche ist Dusch-Tag. An den anderen fünf Tagen ist die Morgenhygiene zweigeteilt: Im Bett wird seine untere Körperhälfte gewaschen und angezogen. Dabei kann er aktiv mitmachen. Noch im Bett wird die PEG gepflegt und das Pflaster zur Befestigung frisch geklebt. Anschließend folgt der Transfer in den Rollstuhl. Dazu rollt er sich auf eine Seite, das Liftertuch wird unter ihn gelegt, er rollt auf die andere Seite und wenn es richtig ausgebreitet ist, wieder auf den Rücken. Mit dem Deckenlifter, dessen Tasten (auf/ab) er selbst bedient, setzt ihn Mama in den Rollstuhl und fährt Toni im Bad ans Waschbecken. Dort wird das Schlafshirt ausgezogen und Toni wäscht sich seine Hände über dem Wasch-becken. Weil er nicht entspannt nach vorn gelehnt unter den Wasserhahn kommt, haben wir eine Handbrause installiert. So kann er die Seife unangestrengt abspülen. Das Händewaschen macht er genauso ausführlich wie vor dem Unfall und dabei ist auch die linke, noch etwas bewegungsgehemmte Hand aktiv. Nach dem gewissenhaften Abtrocknen jeder Hand und zwischen allen Fingern geht es weiter: Mit einem Waschlappen wäscht er sich das Gesicht. Von ganz links bis ganz rechts, von oben bis unten. Das dauert zwar eine Weile, aber er scheint es richtig zu genießen, sich selbst so waschen zu können. Zweieinhalb Jahre lang fuhr täglich jemand mit einem Waschlappen durch sein Gesicht. Das hat er sich vor ein paar Monaten wieder zurückerobert! Er wäscht sich unter den Armen und trocknet sich ab. Dann reicht ihm Mama den Deostick, den er in eine Hand nimmt und den Deckel mit der anderen aufschraubt. Er deodoriert sich selbst, wechselt die Hände (meist muss man der linken Hand bei der Achsel rechts etwas helfen, damit auch überall was hinkommt) und schraubt den Deckel wieder drauf. Die Haare bürstet Toni sich ebenfalls selbst und seelenruhig. Sobald er damit fertig ist, kümmert sich Mama um die Tracheostoma Pflege. Auswechseln der Schlitzkompressen und dazwischen die Haut um den Patzhalter herum mit Stomaöl pflegen. Es folgt das Anziehen von Unterhemd und Oberteil und er kann ins Wohnzimmer gefahren werden. Vom Beginn der aktivierenden Pflege im Bett bis jetzt sind dann etwa 45 – 60 Minuten vergangen. Frühstück Dort am Esstisch sitzt er so zwischen halb zehn und elf (je nach Therapie) und isst sein Frühstück. Manchmal fragt er „Wo bleibt mein Kaba?“ oder er möchte Kaffee – total untypisch für ihn. Vor dem Unfall mochte er nie Kaffee. Getränke werden angedickt, mit dem Teelöffel gereicht oder er trinkt mit einem Trinkhalm. Mal mehr, mal weniger. Er stellt das Geschirr weg, wenn er nicht mehr essen möchte. Dabei hustet er manchmal und soll danach sprechen, damit die Stimmlippen wieder frei sind. Gestaltung des Tages / Aktivitäten Oft folgt nach dem Frühstück eine Ruhephase vor der nächsten Therapie oder Aktiv-Phase. Wird er wieder wach, bieten wir ihm Verschiedenes an und er wählt je nach Lust und Laune davon etwas aus. Mögliche Aktivitäten sind Spaziergänge in die Stadt mit dem E-Rolli oder zum Einkaufen in den Supermarkt. Zu Hause blättert er Kataloge und Prospekte durch, liest Zeitung oder eingetroffene Post. Wir machen Spiele mit ihm
Außerdem trainieren wir mehrmals täglich sein Gedächtnis – stellen Kopfrechenaufgaben oder versuchen das Alphabet mit Tieren, Städten, Ländern, Namen oder Nahrungsmitteln gemeinsam mit ihm aufzusagen. Aus den ihm angebotenen Aktivitäten wählt er frei. Manchmal wird durch eine Äußerung (z.B.: „Ich brauche meinen Führerschein“) von ihm deutlich, dass er nicht ganz in unserer Gegenwart ist. Geduldig führt Mama ihn dann durch seine Vergangenheit, er beantwortet Fragen zu seinem Alter, der Arbeitsstelle, dem Wohnort. Sie erklärt ihm dann, dass er einen Unfall hatte und derzeit im Rollstuhl sitzt, wir ein neues Auto haben und in einem anderen Ort wohnen, weil eine barrierefreie Wohnung unerlässlich ist. Welche Verletzungen er hat, kann er sagen und auch, warum es dazu kam. Auf die Frage, ob das Leben so – ohne Arbeit und mit Pflege zu Hause – schlimm für ihn ist, antwortet er kopfschüttelnd mit „Nein“. Wenn er eine gute Nacht hatte, ist er in seinen Aktiv-Phasen durchaus sehr ausdauernd. Meist folgt danach eine „verarbeitende Ruhepause“, wenn er mag auch im Wohnzimmer in der Lagerungsinsel liegend. Wir bieten auch immer wieder an, Physio-Übungen zu machen oder aufzustehen. Von uns beiden gestützt oder am Geh-Wagen durch den Flur bis in die Küche zu gehen. Einzig beim Gehen ist er ungeduldig und unzufrieden über die noch geringe Muskelkraft in den Beinen. Deshalb wird er einmal am Tag zum Fahrradfahren ans „Motomed“ gesetzt. Da kann er selbst treten, inzwischen auch schon mit höherer Belastungsstufe, um die Beinmuskulatur zu stärken. Danach kommen die Arme dran. Den linken Arm kann er nicht ganz strecken und hält ihn meist sehr nah und stark angewinkelt am Körper. Beim Kurbeln kann er sich auch mit dem linken Arm auf die Bewegung einlassen und meist auch den Kopf schön aufrecht halten. Erneut folgt dann eine kurze Ruhephase. Insbesondere beim Gehen oder Stehen ist Toni seine Zufriedenheit über das erreichte Ziel anzusehen. Tonis eigen-motivierte Aktiv-Phasen Inzwischen kann er selbst sagen, was er tun möchte. Manchmal fragt er nach einem Stift und Papier und versucht lesbar zu schreiben. Oder er fragt nach einem Schraubenzieher und dreht dann ca. 30 Minuten lang Schrauben irgendwo raus/rein. Er holt sich auch immer mal wieder ein Fotoalbum und blättert durch die Vergangenheit. Dabei spricht Mama mit ihm darüber. Sie fragt immer wieder nach, wer zu sehen ist oder was für eine Begebenheit das war. Er erinnert sich meist daran oder hört aufmerksam zu, wenn sie davon erzählt. Manchmal bewegt er auch seinen Rollstuhl unaufgefordert selbst durch den Raum, um das Radio einzuschalten. Einmal am Tag (mindestens) legt er die Kissen unter seinen Armen beiseite und zieht die Decke von seinen Beinen weg. Das Rascheln der Kissen hören wir immer – nicht selten gerade dann, wenn man selbst sich eben erst für einen Moment hingelegt hat ;-)! Auf die Frage „Was möchtest Du?“ kommt prompt „Ich geh jetzt aufs Klo!“. Ihn umzusetzen vom Rollstuhl auf das WC ist aufwändig und anstrengend. Vor allem, wenn es dann (wie derzeit noch) einfach nicht mit dem gewünschten Ergebnis endet. Aber wir fahren ihn hin, er hebt das Bein mit dem Beutel hoch und wir leeren direkt diesen in die Toilette. Mit der Fernbedienung für dieses Spezial-WC kann Toni dann selbst spülen. Ein Kompromiss – solange bis die Rumpfstabilität besser und die Fähigkeit zu spüren und noch zu halten, bzw. im richtigen Moment zu lassen - mehr trainiert werden konnte. Da fragt jemand nach, wie es Toni inzwischen geht. Ich spreche von Fortschritten, die enorm sind und uns freuen und überraschen. Die nächste Frage kann dann sein: „Ja, wann geht er dann wieder arbeiten?“
Bei Toni ist das anders. Aber wie genau? Heute also ein Versuch, das mal umfassend darzustellen: Physisch: Toni sitzt im Rollstuhl, weil seine Muskulatur nach der langen Wach-Koma-Phase erst langsam wieder aufgebaut werden muss. Er hat aber keine dauerhafte Lähmung. Eine lange Zeit war in seiner linken Körperhälfte ein starker Tonus, eine Krampfhaltung des Arms und auch des Beines. Die kann er inzwischen mäßig gut selbst auflockern. Doch wenn es ihm schlecht geht, er gähnt oder hustet kehrt der Tonus verstärkt in den linken Arm zurück. Noch immer ist die linke Körperseite seine stärker-betroffene Seite. Bei Hand und Arm ist das sehr deutlich. Die Rumpfhaltung ist asymmetrisch linkes etwas eingeknickt. Auch bei den Beinen spürt man, dass er links noch schwächer ist als auf der anderen Seite. Er trainiert den linken Arm in der Ergotherapie, die Rumpfmuskulatur in der Physiotherapie. Vor etwa einem Jahr wollte er plötzlich aufstehen. Seitdem trainieren wir das Stehen und Gehen auch von Zeit zu Zeit. Wiedererwacht: In Toni Fall würde ich nicht sagen, dass er „wieder aufgewacht“ ist. Dabei stellt man sich vor, wie wir morgens dem Wecker eins draufhauen, so langsam wieder alle Bewusstseins-Persönlichkeits-Stücke zusammensetzen, uns räkeln und anfangen, den Tag im Geiste durchzugehen. So ist er nicht aufgewacht. Die Wachkoma-Phase von Toni ging nach einigen Monaten in das von Ärzten diagnostizierte Apallische Syndrom über. Ich persönlich hatte oft auch den Eindruck, dass er möglicherweise sogar an dem „Locked in“-Syndrom leidet. Das mag zwar meine Einbildung sein, doch ich war früh überzeugt, dass er uns hört, versteht und erkennt. Nur war es ihm nicht möglich, sich mitzuteilen. Selbstverständlich nicht gleich durch Worte, aber auch nicht durch Gesten, kleine Augenbewegungen oder Ähnliches. Es dauerte lange, bis er das konnte. Nach dem „Nicken-mit-den-Augen“ kam langsam Leben in die rechte Hand. Er kehrte in seinen Körper zurück, Stück für Stück (und damit meine ich Millimeter für Millimeter) und über einen langen Zeitraum hinweg! Der Beginn war die rechte Hand. Inzwischen bewegt er sich mehr. Auch nachts im Bett, daher muss er nachts nicht mehr zwingend alle zwei bis drei Stunden gelagert werden. Während des langsamen Aufwachens sagte man uns in Allensbach, dass es besser sei, ihn nicht durch Besuchermassen zu überfordern. Es reagierte auf Mama und mich, wohl auf die bekannten Stimmen. Auch heute noch ist es ihm manchmal offenbar am liebsten, er hört unseren Gesprächen zu ohne daran teilnehmen zu müssen. Dabei ist er oft tiefenentspannt und schläft häufig ein. Die Zeiträume in denen er ganz da ist, aufmerksam im Hier und Jetzt, teilnimmt am Geschehen und vielleicht auch mal über Situationskomik lacht, wurden im Laufe der Jahre länger. Von wenigen Minuten am Tag auf mehrere Phasen verteilt bis zu heute mehrere Stunden am Stück. Je nach Tagesform variiert das natürlich. Sein Kurzzeitgedächtnis ist definitiv beeinträchtigt. Er erinnert sich selten daran, was gestern oder vor ein paar Stunden war. An seine Vergangenheit kann er sich hingegen sehr gut erinnern. Er erkennt auch Freunde und Verwandtschaft ohne Probleme. Gespräche mit Toni zu führen ist in der Regel ein Frage-Antwort-Spiel und geht häufig von uns aus. Wenn er sich mal zu Wort meldet, was natürlich auch vorkommt, dann möchte er entweder etwas verändern (Radio ausschalten, anderen Fernsehsender einstellen, ins Bett oder spazieren gehen) – konkrete Dinge eben. Oder er fängt an zu reden aus einer seiner „Innen-Reisen“ heraus. Beispielsweise fordert er Mama auf, den Monitor abzuklemmen oder die kleinen, schwarzen Magnetkontakte holen. Folglich ist er gerade auf irgendeiner Baustelle und ziemlich beschäftigt. Ein anderes Beispiel: Wenn er eine Zeit ferngesehen hat, kommt es häufig vor, dass er sich umdreht um uns dann zu verkünden: „Ich fahr jetzt nach Hause!" - "Wo ist das?" - "In Herbertingen!“ Das mit dem Schädel-Hirn-Trauma und seinen Fähigkeiten oder Einschränkungen ist wirklich nicht leicht zu erklären. Er ist – wenn er richtig da ist – immer noch schneller im Kopfrechnen als ich. Rommée spielen wir gern und er kann es so gut wie früher. Nur hält er die Karten nicht in der Hand, sondern steckt sie vor sich in einen Kartenbogen und das dauert eben etwas länger. Aber zu spielen ist dennoch möglich, so wie früher. Aber einem Gespräch über längere Zeit zu folgen, strengt ihn sehr an. Da nimmt er sich dann einfach raus, driftet irgendwie weg, ist in sich und schließt die Augen. Ihn von da zurückholen ist inzwischen immer möglich und er weiß dann auch meist, worum es geht oder kann Antwort geben, wenn er gefragt wird. Also hingegen meiner Befürchtung nach der Internetrecherche über Schädel-Hirn-Trauma-Patienten ist er vom Wesen und seiner Persönlichkeit unverändert. Das hätte auch ganz anders sein können: Dass er keinen mehr kennt, sich nicht an seine Vergangenheit erinnert, schnell wütend und aufbrausend ist, nichts mehr von seinem Charakter erkennbar ist. Mit all dem mussten wir rechnen. Deshalb sind wir so dankbar! Er ist trotz aller Veränderungen unverändert – wenn ihr versteht, was ich sagen möchte. Er hat große Fortschritte gemacht, mit denen niemand gerechnet hat und die im Grunde unmöglich oder zumindest unwahrscheinlich scheinen. Für uns ist das schon unglaublich viel! Jeder Arzt ist verwundert. Tonis Entwicklung ist Wunder-voll und seinem Ehrgeiz zu verdanken. Mir kamen die Tränen, als ich zum ersten Mal nach Jahren seine Stimme wieder hören konnte. Jedes Mal, wenn er meinen Namen sagt, bin ich gerührt und freue mich. Vor ein paar Monaten las Mama irgendetwas und hat nicht gesehen, dass er sich zu ihr wandte und den rechten Zeigefinger hob, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich saß dabei und wartete einfach ab. Er schluckte, holte Luft und sagte „Elfriede?“ – und Mama war völlig aus dem Häuschen. Wie elektrisiert und total begeistert sprang sie auf – das war richtig schön. Vor allem, weil er lächelte und sich über die Reaktion freute, die er durchs Sprechen ausgelöst hat. Ja, er macht Fortschritte. Nach der langen Zeit, in der auf jeden Fortschritt ein oder zwei Rückschläge folgten, sind wir froh, wenn alles so bleibt wie es jetzt ist. Er ist Toni. Aber eben die Version nach dem Unfall. Er kann und wird nie mehr so sein, wie davor. Das erwarten wir auch nicht. Bei seinen Zielen unterstützen wir ihn, trainieren das Gehen und Stehen, üben das Sprechen und Essen. Wir genießen die Zeit mit ihm. Er weiß, was passiert ist – zwar erinnert er sich nicht daran, aber er weiß, woher er die Narben auf dem Kopf hat und warum. Mama fragte ihn vor zwei Tagen, ob das Leben jetzt ganz schlimm für ihn ist und er antwortete mit einem Kopfschütteln. Wir sind wirklich zufrieden mit der aktuellen Ausgabe von ihm! P.S.: Frohe Weihnachten! <2015>
In den letzten Tagen ist mir deutlich aufgefallen, wie besonders die Fortschritte sind, die Toni macht. Seine Stimme ist lauter als bisher. Ich muss nicht mehr ständig nachfragen, was er meint, wenn er so klar und gut hörbar spricht. Heute Morgen rief ich kurz an, da lag er noch gemütlich faul im Bett. Mama läuft also mit dem Telefon und mir auf Lautsprecher ins Schlafzimmer: „Guten Morgen, Toni!“ „Guten Morgen, Karin!“ „Wie geht’s Dir?“ „Danke, gut.“ „War die Nacht okay?“ „Ja.“ „Willst du dann jetzt aufstehen oder bleibst du noch liegen und ruhst dich aus?“ „Ich ruh mich aus!“ „Alles klar, dann bis später!“ „Ja, tschüß.“ Manchmal weiß er nicht, wer gerade am Telefon ist. Er erkennt nicht immer die Stimme. Auch nicht immer, wenn man gerade vor ihm steht. Vielleicht ist er in dem Moment in Gedanken ganz woanders - z.B. in der Vergangenheit. Dann deutet er auf mich und sagt im Brustton der Überzeugung „Das ist (Name seiner jüngeren Schwester)!". Naja, aber meistens – so wie heute – ist er ganz da und folgt dem Geschehen und den Gesprächen aufmerksam. Vor ein paar Tagen hob er den Zeigefinger, winkte Mama heran und bat sie mit folgenden Worten: „Wenn du Zeit hättest, tätest du mich dann ins Bett?“ (mir sind Schwaben, darum ist tätest also eigentlich „dädescht“ ein normalgebräuchlicher Begriff) Wir waren völlig überrascht und erfreut über diese rücksichtsvolle Formulierung. Früher legte er entweder die Handflächen (pantomimisch quasi ein Kissen) aneinander und führte dann beide Hände an seine Wange. Etwas später dann sagte er einfach „Ich geh jetzt ins Bett!“ oder „Ich will ins Bett!“ Also durchaus eine Veränderung, eine rührende und erstaunliche, wie ich finde. :-) Ähnlich erstaunlich war vor ein paar Tagen: Zeigerfinger, Mama herwinken, als sie kurz vorbeikam und fragen: „Was ist das für ein Geräusch?“ „Die Dunstabzugshaube in der Küche. Ich koche gerade.“ Aha, Nicken. Finger runter. Kurz darauf wieder von vorn: Zeigefinger, heranwinken und fragen: „Was kochst du gerade in der Küche für Karin?“ Er nimmt Anteil, bekommt viel mehr mit, ist meistens da und ganz oft lacht er über Situationskomik, den neuen Asterix-Comic (der er völlig vertieft verschlang), blöde Grimassen - er lacht! Wie schön - ich bin sehr dankbar darüber! |
Kategorien
Alle
Archive
August 2020
AutorIn den ersten dreieinhalb Jahren nach dem Unfall fast immer mit dabei |