Da fragt jemand nach, wie es Toni inzwischen geht. Ich spreche von Fortschritten, die enorm sind und uns freuen und überraschen. Die nächste Frage kann dann sein: „Ja, wann geht er dann wieder arbeiten?“
Bei Toni ist das anders. Aber wie genau? Heute also ein Versuch, das mal umfassend darzustellen: Physisch: Toni sitzt im Rollstuhl, weil seine Muskulatur nach der langen Wach-Koma-Phase erst langsam wieder aufgebaut werden muss. Er hat aber keine dauerhafte Lähmung. Eine lange Zeit war in seiner linken Körperhälfte ein starker Tonus, eine Krampfhaltung des Arms und auch des Beines. Die kann er inzwischen mäßig gut selbst auflockern. Doch wenn es ihm schlecht geht, er gähnt oder hustet kehrt der Tonus verstärkt in den linken Arm zurück. Noch immer ist die linke Körperseite seine stärker-betroffene Seite. Bei Hand und Arm ist das sehr deutlich. Die Rumpfhaltung ist asymmetrisch linkes etwas eingeknickt. Auch bei den Beinen spürt man, dass er links noch schwächer ist als auf der anderen Seite. Er trainiert den linken Arm in der Ergotherapie, die Rumpfmuskulatur in der Physiotherapie. Vor etwa einem Jahr wollte er plötzlich aufstehen. Seitdem trainieren wir das Stehen und Gehen auch von Zeit zu Zeit. Wiedererwacht: In Toni Fall würde ich nicht sagen, dass er „wieder aufgewacht“ ist. Dabei stellt man sich vor, wie wir morgens dem Wecker eins draufhauen, so langsam wieder alle Bewusstseins-Persönlichkeits-Stücke zusammensetzen, uns räkeln und anfangen, den Tag im Geiste durchzugehen. So ist er nicht aufgewacht. Die Wachkoma-Phase von Toni ging nach einigen Monaten in das von Ärzten diagnostizierte Apallische Syndrom über. Ich persönlich hatte oft auch den Eindruck, dass er möglicherweise sogar an dem „Locked in“-Syndrom leidet. Das mag zwar meine Einbildung sein, doch ich war früh überzeugt, dass er uns hört, versteht und erkennt. Nur war es ihm nicht möglich, sich mitzuteilen. Selbstverständlich nicht gleich durch Worte, aber auch nicht durch Gesten, kleine Augenbewegungen oder Ähnliches. Es dauerte lange, bis er das konnte. Nach dem „Nicken-mit-den-Augen“ kam langsam Leben in die rechte Hand. Er kehrte in seinen Körper zurück, Stück für Stück (und damit meine ich Millimeter für Millimeter) und über einen langen Zeitraum hinweg! Der Beginn war die rechte Hand. Inzwischen bewegt er sich mehr. Auch nachts im Bett, daher muss er nachts nicht mehr zwingend alle zwei bis drei Stunden gelagert werden. Während des langsamen Aufwachens sagte man uns in Allensbach, dass es besser sei, ihn nicht durch Besuchermassen zu überfordern. Es reagierte auf Mama und mich, wohl auf die bekannten Stimmen. Auch heute noch ist es ihm manchmal offenbar am liebsten, er hört unseren Gesprächen zu ohne daran teilnehmen zu müssen. Dabei ist er oft tiefenentspannt und schläft häufig ein. Die Zeiträume in denen er ganz da ist, aufmerksam im Hier und Jetzt, teilnimmt am Geschehen und vielleicht auch mal über Situationskomik lacht, wurden im Laufe der Jahre länger. Von wenigen Minuten am Tag auf mehrere Phasen verteilt bis zu heute mehrere Stunden am Stück. Je nach Tagesform variiert das natürlich. Sein Kurzzeitgedächtnis ist definitiv beeinträchtigt. Er erinnert sich selten daran, was gestern oder vor ein paar Stunden war. An seine Vergangenheit kann er sich hingegen sehr gut erinnern. Er erkennt auch Freunde und Verwandtschaft ohne Probleme. Gespräche mit Toni zu führen ist in der Regel ein Frage-Antwort-Spiel und geht häufig von uns aus. Wenn er sich mal zu Wort meldet, was natürlich auch vorkommt, dann möchte er entweder etwas verändern (Radio ausschalten, anderen Fernsehsender einstellen, ins Bett oder spazieren gehen) – konkrete Dinge eben. Oder er fängt an zu reden aus einer seiner „Innen-Reisen“ heraus. Beispielsweise fordert er Mama auf, den Monitor abzuklemmen oder die kleinen, schwarzen Magnetkontakte holen. Folglich ist er gerade auf irgendeiner Baustelle und ziemlich beschäftigt. Ein anderes Beispiel: Wenn er eine Zeit ferngesehen hat, kommt es häufig vor, dass er sich umdreht um uns dann zu verkünden: „Ich fahr jetzt nach Hause!" - "Wo ist das?" - "In Herbertingen!“ Das mit dem Schädel-Hirn-Trauma und seinen Fähigkeiten oder Einschränkungen ist wirklich nicht leicht zu erklären. Er ist – wenn er richtig da ist – immer noch schneller im Kopfrechnen als ich. Rommée spielen wir gern und er kann es so gut wie früher. Nur hält er die Karten nicht in der Hand, sondern steckt sie vor sich in einen Kartenbogen und das dauert eben etwas länger. Aber zu spielen ist dennoch möglich, so wie früher. Aber einem Gespräch über längere Zeit zu folgen, strengt ihn sehr an. Da nimmt er sich dann einfach raus, driftet irgendwie weg, ist in sich und schließt die Augen. Ihn von da zurückholen ist inzwischen immer möglich und er weiß dann auch meist, worum es geht oder kann Antwort geben, wenn er gefragt wird. Also hingegen meiner Befürchtung nach der Internetrecherche über Schädel-Hirn-Trauma-Patienten ist er vom Wesen und seiner Persönlichkeit unverändert. Das hätte auch ganz anders sein können: Dass er keinen mehr kennt, sich nicht an seine Vergangenheit erinnert, schnell wütend und aufbrausend ist, nichts mehr von seinem Charakter erkennbar ist. Mit all dem mussten wir rechnen. Deshalb sind wir so dankbar! Er ist trotz aller Veränderungen unverändert – wenn ihr versteht, was ich sagen möchte. Er hat große Fortschritte gemacht, mit denen niemand gerechnet hat und die im Grunde unmöglich oder zumindest unwahrscheinlich scheinen. Für uns ist das schon unglaublich viel! Jeder Arzt ist verwundert. Tonis Entwicklung ist Wunder-voll und seinem Ehrgeiz zu verdanken. Mir kamen die Tränen, als ich zum ersten Mal nach Jahren seine Stimme wieder hören konnte. Jedes Mal, wenn er meinen Namen sagt, bin ich gerührt und freue mich. Vor ein paar Monaten las Mama irgendetwas und hat nicht gesehen, dass er sich zu ihr wandte und den rechten Zeigefinger hob, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich saß dabei und wartete einfach ab. Er schluckte, holte Luft und sagte „Elfriede?“ – und Mama war völlig aus dem Häuschen. Wie elektrisiert und total begeistert sprang sie auf – das war richtig schön. Vor allem, weil er lächelte und sich über die Reaktion freute, die er durchs Sprechen ausgelöst hat. Ja, er macht Fortschritte. Nach der langen Zeit, in der auf jeden Fortschritt ein oder zwei Rückschläge folgten, sind wir froh, wenn alles so bleibt wie es jetzt ist. Er ist Toni. Aber eben die Version nach dem Unfall. Er kann und wird nie mehr so sein, wie davor. Das erwarten wir auch nicht. Bei seinen Zielen unterstützen wir ihn, trainieren das Gehen und Stehen, üben das Sprechen und Essen. Wir genießen die Zeit mit ihm. Er weiß, was passiert ist – zwar erinnert er sich nicht daran, aber er weiß, woher er die Narben auf dem Kopf hat und warum. Mama fragte ihn vor zwei Tagen, ob das Leben jetzt ganz schlimm für ihn ist und er antwortete mit einem Kopfschütteln. Wir sind wirklich zufrieden mit der aktuellen Ausgabe von ihm! P.S.: Frohe Weihnachten! Comments are closed.
|
Kategorien
Alle
Archive
August 2020
AutorIn den ersten dreieinhalb Jahren nach dem Unfall fast immer mit dabei |