Als ich am Wochenende die Wohnung betrat, hörte ich Mama genervt vor sich hinschimpfen. Nicht ohne Grund aber mit erstaunlicher Wirkung! „Toni! Was soll denn das? Lass das jetzt!“ Nach der ersten Sorge (um Mama) hörte ich eine kurze Weile zu und ging dann zu den beiden.
Schließlich musste ich lachen: der Ärger gab ihr ganz offensichtlich die nötige Kraft und Energie, um Toni nach zwei Tagen Bettruhe mal wieder in den Rollstuhl zu befördern (auf die „alte“ Weise) mit Liftertuch und Deckenlifter und so wie es eben gemacht werden muss, wenn er keine Kraft hat, um aktiv mitzuhelfen. Das war so ein Tag, an dem gar nichts rund lief. Mama stolperte fast, der Sprudler fiel zweimal runter, der Fernseher funktionierte plötzlich nicht mehr (tags drauf war da zuminedest alles einfach wieder normal) und noch mehr solche Dinge, die nicht dramatisch waren (zum Glück), sich aber derart häuften, dass schließlich fast hysterisches Lachen als einzige Option übrig blieb. Nur als Beispiel: Wir sind ja gerade alle ziemlich angeschlagen (erkältungstechnisch) und Mama meinte, ich solle doch einfach auch inhalieren, das Gerät mit allem Zubehör stand ja direkt betriebsbereit neben mir. Ich nahm den Schlauch, schaltete es ein und hielt mir das Ende einfach vor die Nase. Mama (nach einer halben Minute): „Ha Karin, du musst ja schon den Vernebler anstecken!“ Den hatte ich völlig vergessen! Und hätte es wohl auch nach 5 Minuten nicht gemerkt... ups, peinlich! Es ist schon seltsam, wie schnell es gehen kann. In einem Moment wird aus Tonis Fortschritten wieder ein totaler Intensiv-Patient. Da sind plötzlich wieder tausend Schläuche und Geräte und Aufmerksamkeiten notwendig, die lange passé waren.
24 Stunden am Tag beatmen mit dem (lauten – aber glücklicherweise mit laaaangem Schlauch ausgestatteten) Sauerstoffgerät, regelmäßig absaugen, die Fersen und die Hüfte genauestens beobachten, da sonst schnell ein Dekubitus droht. Bei jedem Husten, bei dem es ihn durchschüttelt, rutscht die Atemmaske oder die Sauerstoff-Brille. Oder er entfernt das einfach, weil es ihn „stört“ (kitzelt, drückt, reibt – was auch immer). Auch dass sich das Leben quasi im Flur abspielt oder komplett ins Schlafzimmer verlagert (weil man ständig rennen muss), war sehr gewöhnungsbedürftig. Wobei, vielmehr zeigt es ja auf, wie gut es eigentlich bisher lief. Und wie selbstverständlich ich alle Mini-Fortschritte angenommen habe; ständig drauf wartete, weitere Fortschritte zu sehen. Tja, so läuft das ja immer: Erst wenn es weg ist, weiß man zu schätzen was man hatte! Inzwischen sind wir wieder darauf eingestellt. Denn glücklicherweise ist das ja auch so: man gewöhnt sich schnell! Toni schwitzt und kämpft mit einem Atemwegsinfekt.
Im Gegensatz zum letzten Mal, als er Fieber hatte, können wir dieses Mal ziemlich genau sagen, dass er wohl draußen einen Zug abbekommen hat, auf den er nun unterkühlt/verschnupft reagiert. Naja, mal ohne Flaps - er hatte zuerst eine heisere Stimme und fieberte dann am Abend auf. Anders als beim letzten Mal konnte er in den ersten Fieber-Tagen produktiv abhusten. Dann nicht mehr. Und das Fieber blieb. Mit Antibiotika ist er jetzt fieberfrei. Allerdings ist seine Sauerstoffsättigung so schlecht, dass heute auf die Schnelle dringendst ein Sauerstoffgerät beschafft werden musste. Zuletzt benötigte er vor drei Jahren Sauerstoff?!? Das geht nun schon mehrere Tage so, die Nächte sind definitiv kein leichtes Spiel und bieten kaum Erholung. Er ist durch das Fieber nun sehr geschwächt, hat kaum Kraft zum Husten. Er braucht viel mehr Sauerstoff als bei früheren Infekten, damit die Sättigung besser ist - gut ist aber auch anders. Irgendwie muss ich das alles wohl unterschätzt haben. Heute wurde mir klar, dass ihn das total zurückwirft. Allein schon kräftemäßig! Bis er wieder auf dem Stand von vor 8 Tagen sein wird, werden sicher Wochen vergehen! Das fordert also viel Einsatz und Geduld und enorm viel Kraft (auch weil die Pflege ja aufgrund seiner Schwäche wieder schwerer für Mama werden wird). Irgendwie hangeln wir uns von "Wenn nur... dann wird es besser..." zum nächsten "Wenn... dann...". Es kommen freie Tage, dringend benötigt, aber ich habe nicht die Erwartung, dass uns das zu neuer, frischer Kraft verhilft. Sicher, ich bin einfach erschöpft und müde. Ich frage mich, wie es dann erst meiner Mutter wirklich geht. Und ehrlich gesagt: da ist nicht mal mehr Kraft fürs "Sorgen machen"! Das ist wirklich eine neue Dimension des gefühlten jahrelangen Ausnahmezustands. Ich wünsche mir so dringend: Einfach eine Kraft-Dusche nehmen zu können und dabei bis obenhin voll aufgeladen werden mit Energie. Mit so viel Energie, dass es für die nächsten Jahre reicht. Dabei bin ich mir bewusst, dass es viele Familien gibt, in denen Pflege, Ausnahmezustände und Energie-Mängel ähnlich "wüten". Für alle, die das brauchen (noch viel dringender als ich, die ich abends zu mir nach Hause gehe und nicht jeden Husten-Versuch in der Nacht höre) versuche ich positiv zu denken und wünsche wenigstens erholsamen Schlaf, so kurz er auch ausfallen mag. Und wer weiß, vielleicht stehen irgendwann bald - vielleicht schon morgen - die Sterne etwas günstiger, sodass die kosmische Strahlung sich positiv auswirkt oder möglicherweise hilft mein Wunsch dabei, eine Gruppe der himmlischen Heerscharen herbeizusehnen, die lindernd beistehen oder in einem Mega Engel-Flashmob uns allen Kraft geben. Oder jeder von uns findet in sich die Quelle purer Lebenskraft, die uns hilft ALLES zu bewältigen, was sich uns bieten mag. Ja, das klingt doch wie ein Plan! Nächste Woche trifft sich erneut die Selbsthilfegruppe Tracheostoma.
Zum dritten Mal werde ich nicht dabei sein. Einerseits bin ich unglaublich neugierig und würde gern direkt die neuen Gesichter und Geschichten hören. Andererseits ist es für mich nicht möglich, mich so weit zurückzunehmen um ganz offen andere Schicksale mitzutragen. Doch mir geht das einfach zu nah. Noch immer habe ich persönlich an meiner Situation zu knabbern, würde lieber selbst sagen, wie schlimm ich es manchmal empfinde. Dabei ist das nicht angebracht, da es mittlerweile immer wieder neu-betroffene Familien gibt, die wirklich Hilfe brauchen, gehört und verstanden werden müssen. Tatsächlich melden sich immer mal wieder Betroffene oder Angehörige bei meiner Mutter und die meisten sind wirklich erleichtert. Es wird nicht alles automatisch besser dadurch. Aber es ist enorm wichtig, sich verstanden zu wissen, die eigene Situation und die Belastung mal loswerden zu können. Tipps zu erhalten oder einfach zu sehen, wo andere stehen oder sich weiterentwickeln. Das kann Hoffnung geben, selbst vielleicht auch mit der Zeit Fortschritte zu machen. Es sind so unterschiedliche Fälle, die alle eine Trachealkanüle haben oder hatten. Nicht immer kommt - so wie bei Toni - ein Tracheostoma mit einem Schädel-Hirn-Trauma in Kombination. Und manche Schädel-Hirn-Patienten haben gar kein Problem mit dem Tracheostoma, sondern können relativ zeitnah dekanüliert (also von der Kanüle wieder entwöhnt) werden. Aber auch bei Angehörigen von Schädel-Hirn-Patienten treten praktische Fragen auf, bei denen Mama aus eigener Erfahrung mit Rat zur Seite stehen kann. Schon dreimal kamen Familien zu Besuch, bei denen das Ende der Reha und damit die Frage der Unterbringung in einer Einrichtung oder aber eine Pflege in den eigenen vier Wänden im Raum stand. Es zu sehen und ganz einfach alle Fragen stellen zu können, die sich bei der Pflege zuhause stellen, führte meist zu Klarheit bei den Besuchern. Mich freut das immer, denn oft spürt man den Wandel in der Stimmung der Besucher. Wie es "leichter" wird und Entscheidungen sich herauskristallisieren. Überhaupt finde ich das wirklich fantastisch, dass es Mama möglich ist, auf diesem Weg zu helfen. |
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August 2020
AutorIn den ersten dreieinhalb Jahren nach dem Unfall fast immer mit dabei |