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Ich kann in Gesprächen oft nicht direkt und konkret erklären, warum ein Pflegedienst keine Hilfe für uns darstellt. Vielleicht wird es durch das Nachfolgende klarer?
Natürlich wäre es möglich, mehr „Unterstützung“ zu holen. In vielen (Pflege-)Fällen ist es ja auch zweifellos kein Problem. Wer täglich dabei hilft, die Thrombose-Strümpfe anzuziehen oder einmal die Woche die Haare wäscht – ganz egal, solange einem nur jemand hilft. Das muss nicht der Partner oder ein Angehöriger sein. Sicherlich gibt es zwar helfende Personen, die man „lieber mag“ als andere. Es kann auch sein, dass eine Pflegeperson vielleicht hört: „Schwester Angelika macht das aber immer anders/besser!“ Bei einem Schädel-Hirn-Trauma/Wachkoma kann es anders sein. So wie beispielsweise bei Toni: Vorab ein Versuch: Stellt euch vor, ihr könnt NICHTS selbstständig tun. Nicht umdrehen im Bett, nicht kurz an der Nase kratzen und nicht die Zähne bürsten. Weder das Gesicht waschen noch sonst irgendetwas der Körperhygiene ist euch ohne Hilfe möglich! Vor allem: nicht sagen können, dass die Musik zu laut ist oder das Licht blendet schmerzhaft, weil nicht mal ein Kopfdrehen möglich ist. Nur Blinzeln geht - um eine Frage zu bejahen. Falls jemand eine Frage stellt! Wer mag kann es ja mal für eine Minute ausprobieren. In diesem Zustand befand sich Toni etwa 2-3 Jahre. Darauf angewiesen, dass irgendjemand (wir) in seiner minimalen Mimik und den Veränderungen seines Pulses „lesen“ und durch Abfragen herausfinden, wie ihm zu helfen wäre. Durch eine strenge tägliche Routine in der Körperpflege, einen immer gleichen Ablauf und sich täglich wiederholende Ansagen dabei, erhält der SHT-Betroffene Sicherheit. Toni weiß genau, wie die Reihenfolge ist und kann geistig dabei sein. Sei es nur dadurch, dass er vorbereitet ist und weiß „Jetzt werde ich gleich am linken Fuß berührt!“ und deshalb nicht zurückzuckt oder erschrickt. Im Laufe der Zeit wurde so möglich, dass er selbst aktiv mitmacht. Soweit die Muskeln eben in der Lage sind, die Arme und Beine zu bewegen beginnt und so eigentlich bereits bei der Morgenhygiene Koordination, Muskeln und das Hirn trainiert. Inzwischen kann er teilweise stehen - erleichtert das Anziehen ungemein! Wie sollte jetzt dieser routinierte Ablauf in der Körperpflege, der so viel Sicherheit bietet, bei wechselnden Pflegepersonen eingehalten werden können? Klar, es kommt vorrangig darauf an, dass er sauber wird. Das kann man ganz schnell (und übergriffig) erledigen. So dauert es keine halbe Stunde, sondern 10 Minuten. Seine verlangsamte Reaktionszeit wäre da eher hinderlich, also dürfte Toni nicht „mitarbeiten“. Er würde sich nicht mit einbezogen fühlen, nicht mitdenken und bräuchte sich auch keine Mühe mit der Kommunikation mehr zu geben. Wie ich das behaupten kann? Na, weil wir das genau so ja bereits erlebt haben! Letztlich führt das bei SHT-/Wachkoma-Patienten sozusagen zur Trennung von Körper und Persönlichkeit. Toni hatte gute Fortschritte gemacht, doch dann ging es mit der Pflege drunter und drüber, was dazu führte, dass er sich in sich selbst zurückzog und die Blinzel-Kommunikation einstellte. Im Bett lag dann nur noch eine leere Hülle. Das war sehr schwer mit anzusehen. Die ganze Entwicklung war zunichte gemacht. Diese Situation über Jahre hinweg auszuhalten - das wäre ein Zustand, bei dem ich verstehen kann, dass Angehörige froh sind, wenn jemand anders die tägliche Versorgung übernimmt und man selbst so wenig wie möglich mitansehen muss. Unsere Pflegekraft kommt einmal die Woche, hat den etablierten Ablauf detailliert übernommen und (wo es möglich war) ausgebaut. Beispielsweise beim Hinstehen die Schwierigkeit erhöht: Toni soll versuchen, einzeln die Knie anzuheben - und siehe da, er kann immer mehr! Dies, sowie unsere Erfahrungen der vergangenen Jahre sind der Grund, weshalb ein Pflegedienst für die Versorgung von Toni nicht wirklich hilft. Das war das Motto eines Vortrags von Frau Gabriele Schneider, Seniorenbeauftragte aus Oberndorf über Alternative Wohnformen, den ich gestern bei der hiesigen AMSEL-Kontaktgruppe besucht habe.
Das Credo: Die Gesellschaft muss sich ändern; weg vom Individualismus beim Bauen/Wohnen; hin zum Leben in Gemeinschaft; jeder mit seinem Rückzugsort, aber mit direktem Zugang zu gemeinschaftlich genutzten Begegnungsräumen; wo fürsorglich aufeinander geachtet wird und sich im Rahmen der Möglichkeiten bei Bedarf gegenseitig geholfen werden kann; wo der Wert des Einzelnen sich nicht an der körperlichen Leistungsfähigkeit orientiert. Die Referentin stellte auch ein weiteres Wohnmodell vor; das „Wohnen in Gastfamilien“. Offenbar gibt es dies nicht nur für psychisch-kranke Personen, sondern auch für ältere Menschen und für Menschen mit Behinderung (z. B. Multiple Sklerose). Auf dem Weg zu Mamas Ziel (einer selbstverwalteten Pflege-WG) sind wir inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem wir nicht mehr nur für Toni und andere SHT-Patienten im Wachkoma oder danach eine gute Unterbringung und Pflege suchen. Stattdessen könnten wir uns vorstellen, „unter dem selben Dach“, aber in Gemeinschaft mit einer selbstverwalteten Pflege-WG zu wohnen. Damit wären unsere Sorgen, was geschieht, wenn Mama die Pflege einmal nicht mehr in dem Maß leisten kann wie bisher, gelöst. In der Pflegewohngemeinschaft könnte Toni zusammen mit anderen Menschen verschiedener Krankheitsbilder (z. B. ALS, Parkinson, MS, Schlaganfall, …) mit hohem oder wachsendem Pflegebedarf leben, versorgt und gefördert werden. Der Gemeinschafts- und Begegnungsraum soll ein Ort werden, an dem die Angehörigen, aber auch Interessierte jederzeit willkommen sind, sich begegnen und einbringen können und aus der Isolation herauskommen ¦ eine gelebte Teilhabe. Vielleicht darf unser Ziel Wirklichkeit werden und wir finden Gleichgesinnte, die sich ebenfalls aktiv mit der eigenen, zukünftigen Wohnsituation beschäftigen und vorsorgen möchten. Dieser Artikel erscheint aktuell in den hiesigen Tageszeitungen - wir hoffen, er bringt etwas in Gang! Selbstbestimmt gepflegt „rund um die Uhr“ Balingen: Interessenten für Gründung einer Pflege-Wohngemeinschaft gesucht Mit einem Schlag kann sich das Leben radikal verändern; ein schwerer Unfall, ein Schlaganfall, eine Hirnblutung oder ähnliches. Oft sind junge Menschen plötzlich Tag und Nacht auf fachkundige Pflege angewiesen. Um diese Menschen und ähnlich Betroffene nicht nur zu versorgen, sondern auch ausreichend und individuell zu fördern, ist in den Pflegeheimen der Personalschlüssel nicht vorhanden. Diese schwer pflegebedürftigen Menschen können sich in einer familiären Umgebung durch eine aktivierende Pflege und auf die jeweilige Situation angepasste Therapien positiv entwickeln. Wahrnehmung, Motivation und sogar einfache Kommunikation nehmen zu. In einigen Fällen ist sogar ein Wiedererwachen möglich. Mit dem neuen Gesetz für unterstützende Wohnformen, Teilhabe und Pflege (Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetz – WTPG) ermöglicht das Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg pflegebedürftigen Menschen eine Wohnform die stark dem Leben in den eigenen vier Wänden ähnelt. In einer „selbstverwalteten Wohngemeinschaft“ regeln die Bewohnerinnen und Bewohner oder deren Angehörige alle Angelegenheiten eigenverantwortlich. Dies bedeutet, dass sie unter anderem Pflege- und Unterstützungsleistungen frei wählen und Dinge des täglichen Lebens selbstbestimmt gestalten. Die oben genannten positiven Entwicklungen sind für uns in der Regionalgruppe „Balingen und Umgebung“ des Bundesverbandes Schädel-Hirnpatienten in Not e. V. Motivation und Ansporn, auch anderen schwer pflegebedürftigen Menschen ein lebenswerteres Leben zu ermöglichen. Wir wollen im Zollernalbkreis eine selbstverwaltete Wohngemeinschaft als Pilotprojekt einrichten und suchen weitere Angehörige, die an dieser Wohnform interessiert sind. Ferner sind wir auf der Suche nach einem geeigneten Objekt. Wer an dem Projekt interessiert ist oder ein Gebäude für diesen Zweck besitzt, darf sich gerne bei der Leiterin der Regionalgruppe unter der Telefonnummer: 07433-9032814 oder E-Mail: [email protected] melden. Wir laden schon heute ganz herzlich zu unserem nächsten Treffen ein. Es findet am Donnerstag, 07.03.2019 um 18 Uhr im Hotel Stadt Balingen im Konferenzraum statt. Ich habe mir ein Drama im Fernsehen angeschaut. Eigentlich weiß ich gar nicht warum – naja, in der Beschreibung stand was von Koma… möglicherweise deshalb.
„The Choice“ ist im Grunde eine Liebeskomödie. Ewig lang dauert es, bis die beiden zusammen kommen; unterhaltsam und witzig ist das anzuschauen. Und dann: Autounfall und sie liegt im Koma. Er leidet ganz fürchterlich darunter, es ist schaurig-traurig und extrem herz-schmerzend anzusehen. Am Bett sitzend redet er wie immer mit ihr und manchmal fleht er sie verzweifelt an, zu ihm zurückzukommen. Nach einiger Zeit (Jahreszeiten wechseln, ich weiß nur nicht wie viele) gibt es immer wieder Gespräche mit dem Arzt: nach 90 Tagen sind die Chancen deutlich geringer,´; die Statistik sagt "blablabla"; sie atme schon so lange nicht mehr selbstständig; kurzum: er müsse das Einverständnis geben, die lebenserhaltenden Maschinen abzuschalten, damit ihr Wunsch (laut ihrer Patientenverfügung) erfüllt werden könne. Dazu ist er aber nicht bereit, hadert mit sich und der Entscheidung lange. Er meint, es dauere schon viel zu lange und man sieht, wie er an der Situation fast zerbricht. Als ein Hurrikan sich anbahnt, denke ich: Okay Karin, sei bereit: es ist ein Drama. Er will nicht evakuiert werden, damit er nahe beim Krankenhaus bleiben kann, vermutlich ist es das dann. Die Kinder der beiden werden von Schwester und Großeltern aufgezogen und alle erinnern sich an die große Liebesgeschichte der beiden. Aber so kommt es nicht. Er baut einen Pavillon an ihrem geheimen Lieblingsplatz, hängt dort ihr selbstgebasteltes Windspiel auf und als sich dieses wie wild gebärdet, rast er ins Krankenhaus. Im Zimmer sitzt seine Frau im Bett. „Du hast Dich verspätet!“ sagt sie. „Aha!“, denke ich. Und wo ist da jetzt das Drama? Alles in allem dauerte die Koma-Phase im Film vermutlich weniger als ein Jahr. Noch ein wenig schwach, ansonsten aber ohne Beeinträchtigung darf sie das Krankenhaus verlassen. Zuhause sprechen die beiden. Sie habe alles gehört, was er ihr gesagt habe. Sie halten sich im Arm und schauen aufs Wasser. Welch wundersame Wendung und Überraschung: Happy End! Fernseher aus, Realität an und in mir kommt eine leichte Gereiztheit auf. So viele Menschen erleben das oder Schlimmeres tatsächlich. Befinden sich in diesem Schrecken über viele Jahre hinweg, warten und hoffen darauf, dass der/die Partner/Partnerin zurückkehrt. Manchmal tun sie das, aber im seltensten Fall geht das vonstatten wie im Film. Mir ist klar, dass Wachkoma und Koma nicht miteinander vergleichbar sind. Mir ist auch klar, dass es kaum ein dramatischeres Element gibt – und dennoch hinterlässt es bei mir einen seltsamen Nachgeschmack, wenn in Filmen Koma instrumentalisiert wird. „Das weckt nur unrealistische Hoffnungen!“ sagte Mama, als ich ihr von diesem Film erzählt habe. Bei Tonis Unfall hatten wir keine Wahl. Er hat im Koma selbstständig geatmet. Ich würde es sogar so sagen: Uns blieb vor fünfeinhalb Jahren keine Wahl, als künftig alle Entscheidungen so gut wie möglich in seinem Sinne zu treffen. Er ist seitdem weg und trotzdem da, mit all dem notwendigen Versorgungs-/Pflegebedarf. Auch dabei gäbe es Wahl-Möglichkeiten, die aber nicht wirklich zur Debatte stehen. Wo und wie man den Betroffenen Angehörigen versorgt wissen will, ist in jedem Fall / je nach Situation unterschiedlich. Aber keiner ist frei von der komplexen Verantwortung, für einen Erwachsenen (den Partner, ein Elternteil, Bruder oder die Schwester), Entscheidungen treffen zu müssen. Ohne sich absprechen zu können! Der Schrecken kommt im Film gut rüber, das muss ich zugeben. Und jetzt stellt Euch vor, der endet nicht! Es gibt Menschen, die sich seit Jahrzehnten im Wachkoma befinden. Jahrzehnte! Das ist wirklich dramatisch, finde ich. Wir haben uns entschlossen, doch mehr Bildmaterial im Blog zu veröffentlichen. Manchmal sprechen Bilder eine deutlichere Sprache, gerade was die Entwicklung und die Fortschritte betrifft.
Hier eine kleine Auswahl - vom Wachkoma bzw. Apallischen Syndrom bis hin zum "Beidhändig-Knoten-Üben" oder PC-Solitaire-Spielen. Neulich habe ich geträumt.
Aus einem schmalen roten Büchlein wurde beim Aufschlagen ein Fotoalbum. Darin lauter Bilder von Familienfeiern im früheren Zuhause. Die Zimmer sahen zwar ganz anders aus, aber es war trotzdem das Zuhause. Auch die Feste selbst haben so nicht stattgefunden. Mich überkommt noch immer Gänsehaut und auch eine Art Traurigkeit, weil es nicht möglich war, wirklich mitzufeiern. Ich hab das Bild betrachtet Die Küche eine Mischung aus dem Raum des früheren Zuhauses und der Stube meiner Großeltern mütterlicherseits. Ein Christbaum in der Ecke, eine lange Tafel gedeckt und daran Menschen, so viele. Zuerst fiel mir mein Opa an der Stirnseite ins Auge, direkt neben ihm Toni. Beide überaus ausgelassen und fröhlich, auch das eher ungewöhnlich. Mich selbst sah ich auch als kleines Mädchen mit einem anderen Kind plaudern. und bevor ich noch etwas oder jemand anderes wahrnehmen konnte, war es schon vorbei. Etwas verwirrt dachte ich darüber nach, ob es das Fest denn gegeben haben kann. Ich kann mich noch gut an den Weihnachtsbaum meiner Großeltern erinnern. Da sind wir früher als Kinder an einem der Weihnachtsfeiertage zusammengekommen mit der Familie. Ich kann mich an die Anis-Plätzchen von Oma erinnern und dass es im „Spielzimmer“ nebenan immer sehr kalt war. Aber haben wir da mal gegessen? Gab es da was anderes als Kaffee? War es dunkel und wann sind wir dann nach Hause gefahren? Wie Opa oder Oma das Feuer schüren seh` ich noch vor mir. Genauso wie die weißen Tassen mit den grünen Punkten. Meine Mutter hatte früher an Weihnachten immer eine Krippe mit faszinierend detailreich geschnitzten Holzfiguren im Esszimmer aufgebaut. Den Raum mochte ich im Winter sehr. Offen zur Küche, mit Teppichboden und der eigentlich viel zu dunklen und rustikalen Holzvertäfelung wirkte er sehr warm auf mich. Da saßen Mama und ich am Abend des 24. Dezember 2012 bei Kerzenschein. Ohne Krippe. Die Füße hochgelegt. Haben wir was gegessen? Nebensächlich. Wir waren bei Toni in der Klinik gewesen (oder sind am nächsten Tag gemeinsam mit dem Auto hingefahren) oder beides … Ich könnte es nachlesen, aber ich möchte mich im Moment lieber nur so ein klein wenig daran erinnern. Ziemlich sicher waren die Laptops an und wir spielten jede für sich Solitär oder so. Zumindest erinnere ich mich so. Rätselhefte haben wir auch gehabt. Das war unglaublich wichtig. Sudokus, Rätsel, einfache PC-Kartenspiele – das Gehirn beschäftigen, etwas tun, sich ganz auf eine kleine Aufgabe konzentrieren. Den Sorgen und Gedanken nicht zu viel Raum geben. Und wie wird es dieses Jahr? <<Ostern 2013 (März/April)
Einige Notizen - drei Jahre ist das nun her: Mama hat in der Nähe der Phase F-Rehaklinik eine Unterkunft bekommen (Ferienwohnung) und ist fast den ganzen Tag bei ihm. Sie begleitet die Therapien und berichtet mir abends über Skype oder Telefon von dem Tag. Toni wird stundenweise entblockt, um das Schlucken und Husten zu üben. Das ist anstrengend für ihn. Er kann noch nicht lange im Rollstuhl sitzen. Nicht jeden Tag, nur ein paar Stunden. „Mobilisation“ nennt sich das dann und ist körperlich einfach auch sehr anstrengend. Offiziell wird sein Zustand als Apallisches Syndrom bezeichnet. An den Wochenenden und Feiertagen fahre ich zu Toni & Mama in die Rehaklinik. Dort angekommen setze ich mich oft zu ihm aufs Fußende des Bettes. Im März hat er einmal den Kopf zu mir gedreht und ich sagte daher „Hallo“ zu ihm. Da bewegte er die Lippen als würde er ebenfalls Hallo sagen. Das war so überraschend und ich war erst völlig perplex. Danach aber mussten wir aus ganzem Herzen lachen. Ich meine er hätte noch lange geschmunzelt darüber, uns so zum Lachen gebracht zu haben. Meist erzählen wir ihm, was es Neues gibt. Vom neuen Autokauf berichten wir. Und sind erstaunt, wenn er am Tag darauf noch davon weiß. Er ist konzentriert dabei, seinen Körper wieder zurückzuerobern. Alles andere ist ihm eher unangenehm. Er möchte also in seinen wachen Phasen keine Musik hören oder so. Er hebt das Becken leicht an, wenn man seine Beine aufstellt und festhält. Er drückt und entspannt die Fäuste, bewegt die Zunge… all das. Die Therapien sind das Wichtigste jetzt. Häufig scheint er zu schnell zu viel Nahrung zugeführt bekommen zu haben. Da muss er dann brechen. Das bedeutet leider auch, dass Therapien nicht so durchgeführt werden können, wie geplant. Ich bin der Meinung, er ist sich im Klaren über seinen Zustand und dass er viel erneut lernen muss. Darüber ist er (toni-typisch) nicht verzweifelt, sondern geht das an und übt. Seine ganze Kommunikation besteht (hin und wieder) aus minimaler Mimik und darin, die Hand zu drücken, wenn man seine hält. Das ist schon viel für uns. Als ich einmal etwas sagte, lächelte er sehr breit. Ein so weites Lächeln, dass sich sogar Lachfältchen an seinen Augen bildeten! Inzwischen ist das Annehmen einfacher geworden. Das mit Toni ist so, wie es ist. In Situationen, in denen ich ihn schmerzlich vermisse, versuche ich wie er zu sein. Mama sagte schon mehrmals „Toni“ zu mir. Konflikte lösen sich für mich in der Wahrheit, dass ich nicht mehr sein kann, als ich bin. In der Situation mit Toni und für Mama ist das gut genug! Schlechte oder „keinen guten Tag“-Tage gibt es natürlich auch im April 2013: Heute am Vormittag war er total fertig. Er sah verloren und gestresst aus. Wir haben versucht ihn wieder zurück und zu sich zu bringen. Bei einer Fuß- und Stirnmassage hat er sich langsam entspannt. Am Nachmittag war er entblockt und hat gut abgehustet und häufig gut geschluckt. So langsam will ich nicht mehr lange warten, bis Toni in der neuen Wohnung angekommen ist. Oder wie ich das im März 2013 geschrieben habe: Ich muss immer warten. Ich warte. Darauf dass wir umziehen können. Dass Mama Zeit zum Reden hat. Dass Toni Fortschritte macht. Dass ich aufhören kann zu warten. <2016>
Den Zustand seiner Aufmerksamkeit (oder vielmehr zeitweiligen geistigen Abwesenheit) nachdem Toni aus dem Wachkoma "wiedererwacht" ist, mache ich heute mal zum Thema: Ich könnte nicht sagen, dass er im Durchschnitt täglich soundsoviele Stunden abwesend ist. An manchen Tagen hat er Schlaf- und Wach-Phasen und ist stets ansprechbar. Es gibt aber auch Tage, da ist er überwiegend in sich gekehrt und einfach nicht ganz "da". Es schwankt ziemlich und noch ist mir nicht klar, ob es daran liegt, wie gut und erholt er sich nach der vorangegangenen Nacht fühlt oder ob es am Wettereinfluss liegt. Ich weiß auch gar nicht, ob ich es schaffe, diesen Zustand verständlich zu machen… In diesem Zustand sind seine Augenlider auf Halbmast, die Augen bewegen sich dauernd hin und her und was auch immer sie sehen mögen - es findet nicht in der Realität statt, die wir miteinander teilen. Taucht er daraus wieder auf, hat er uns seit neuestem oft dringlich etwas mitzuteilen. Das ist meist aber so schnell und undeutlich artikuliert, dass wir geduldig mehrfach nachfragen müssen, bis wir uns langsam zusammenreimen können, was eigentlich bei ihm los ist. „Kannst du mir bitte den Kellerschlüssel bringen?“ - „Was brauchst du aus dem Keller?“ - „Die Leiter.“ - „Warum musst du auf die Leiter?“ - „Draußen bei der Alarmanlage.“ - „Was musst du dort machen?“ - „Den Mikrochip ausbauen und hier drinnen einbauen.“ Oder: „Ich brauche drei von den kleinen schwarzen Magnetkontakten.“ Oder: „Der Schalter von der Glasbruchmeldeanlage muss ausgetauscht werden.“ Oder: „Bringst du mir meinen Führerschein?“ – „Wozu brauchst du den?“ – „Auto fahren.“ – „Wer fährt (also wer sitzt am Steuer)?“ - „Ich!“ Oder der Klassiker seit ein paar Monaten: „Was hast du heute gemacht?“ – Toni: „Ich war im Hallenbad!“ Kommt es zu solchen Kollisionen verschiedener Realitäten, versucht Mama, ihn langsam wieder an unsere Wirklichkeit heranzuführen. Sie stellt ihm Fragen über den Stand seiner körperlichen Fähigkeiten, ob er denn gerade wirklich eine Leiter hochsteigen könnte. Warum das so ist, was bei dem Schädelhirntrauma passiert ist. Und sie sagt ihm, dass er in Gedanken gern weiter an der Alarmanlage herumbasteln kann, aber eben in Gedanken. Nicht wirklich wirklich. Deshalb holt sie jetzt weder eine Leiter noch schiebt sie den Rollstuhl nach draußen zur nichtexistierenden Alarmanlage. Im ersten Moment ist es witzig, was er da so aus dem Nichts heraus erzählt. Es fehlt ihm auch noch die Übung, so dass Worte wie „Brandmeldezentrale“ lustig klingen. Nicht selten muss ich mich zusammenreißen, um nicht zu lachen. Vor allem, weil wir uns noch immer nicht an die positive Tatsache gewöhnt haben, dass er von sich aus einfach zu Sprechen beginnt. Nicht immer haben wir die nötige Geduld und Kraft, ihm den Unfall und die Veränderungen im „Leben jetzt“ im Vergleich zum „Davor“ zu erklären. Manchmal hilft es auch, ihn dann einfach mit etwas anderem zu beschäftigen. Nicht immer, aber recht oft lässt er sich ganz gut ablenken. Es sind für ihn ja keine Tagträume oder Gedankenreisen. Es ist kein Luftschlossbau und auch kein Wunschdenken. Aus irgendeinem Grund rutscht manchmal seine Aufmerksamkeit auf eine andere Spur und folgt Erinnerungen, Erlebnissen oder sonst etwas aus dem Fundus seines Gehirns. Für ihn ist das dann real, so wirklich wie die Brille auf seiner Nase. <<2012/2013
Ob der Umgang mit mir in der Zeit direkt nach dem Unfall leicht war? Vermutlich nicht. Ich weiß noch, dass ich wahrscheinlich anders reagierte, als erwartet wurde. Wobei ich noch nirgendwo einen Verhaltens-Leitfaden für Trauma-Angehörige gesehen habe. So meide ich im Jahr 2013 viele Situationen, weil ich mich dem einfach nicht gewachsen fühle. Bei der Arbeit geht das natürlich nicht. Je nach Grad der Sensibilität, fragen mich da manche Personen auch hin und wieder wie es mir geht. Statt einfach zu sagen, „es geht!“ oder „Gut!“ oder sonst eine schnell abfertigende Antwort zu geben, sage ich, wie es ist. Nicht selten dabei kurz mit den Tränen kämpfend. Im Grunde völlig unsensibel, aber ich kann da einfach nicht anders. Meist höre ich mir dabei selbst zu, sag mir innerlich „Hör doch auf!“ und rede trotzdem immer weiter! Vielleicht muss das einfach raus? Vielleicht möchte ich klarstellen, dass mein „Urlaub“ nicht so sein wird oder gewesen ist, wie das angenommen wird? Einige Menschen habe ich damit bestimmt ziemlich überrumpelt und geschockt. Es war ihnen anzusehen, dass sie damit jetzt nicht gerechnet hatten. Im Grunde vermutlich auch nicht mal darauf eingestellt waren, wirklich zuzuhören. Manche Gespräche treiben ja einfach so dahin, die üblichen Erwiderungen sind SmalltalkProfis in Fleisch und Blut übergegangen. Da war ich noch nie richtig gut drin. Tja, nur eine unbedachte Frage und ich rede mindestens 4 Minuten lang von Unfall, Wachkoma, schwer-pflegebedürftig, Unterstützung der Eltern, etc… Die wenigsten wissen dazu etwas zu sagen. Und gerade Ende 2012 bis etwa März 2013 haben Worte auch gar nicht geholfen! Am besten zu ertragen waren eigentlich noch „Viel Kraft!“-Wünsche. Hätte ich mir wohl besser ein Schild um den Hals gehängt mit einer Warnung drauf: WRACK BEI DER ARBEIT – FRAGEN PERSÖNLICHER NATUR AUF EIGENE GEFAHR Manche, die ich damals mit meiner Verzweiflung so geschockt hatte, dass sie jeglichen näheren Kontakt vermieden haben, konnte ich inzwischen über die Fortschritte und die positiven Entwicklungen ins Bild setzen. In 2015 selbst auf der anderen Seite eines „Schicksals-Berichts“ zu stehen und mein Beileid ausdrücken zu versuchen, hat mir gezeigt, wie hilflos und sprachlos man dabei ist. Im Geist höre ich mich dann mit unpassenden Gedanken jonglieren. Wie z.B. „Wird schon wieder!“ oder „Wenigstens kein langes Leiden!“. Verzweiflung kann man nicht schönreden. Aus meiner eigenen Erfahrung habe ich nur gelernt, dass es besser sein mag, manchmal einfach nur zuzuhören. Verstehen zu wollen und zu hören. So schwer das auch ist. Nicht viel sagen, nur zum Abschied „Viel Kraft!“ <<2013
Am 30.09.2013 zieht Toni um nach Balingen. Das ist ziemlich kompliziert und aufregend. In der Intensiv-WG hat er ein Zimmer und sein eigenes Krankenbett. Die meiste Zeit des Tages liegt er im Bett, wird immer mal wieder anders gelagert. Etwa für 2 Stunden pro Tag wird er „mobilisiert“ und in seinen Rollstuhl gesetzt. Dort hat er auch Therapien, aber davon kriegen wir nicht so viel mit. Abgesehen vom Ablauf des Umzugstages muss ja auch im Vorfeld die Pflege mit dem ausgewählten Pflegedienst detailliert besprochen werden. Weil da eben so viel dranhängt und das Zimmer in der WG gekündigt ist, ist es unmöglich, den Umzugstermin zu verschieben. Das muss klappen, selbst wenn in der neuen Wohnung noch nicht alles fertiggestellt ist. Also kommt der Monteur vom Sanitätshaus kurz vor dem Transport in die WG nach Gomaringen. Toni wird in den Multifunktions-Rollstuhl geliftet und mit dem bestellten Rollstuhl-Transport vom KBF zusammen mit Mama nach Balingen gefahren. Ganz langsam und vorsichtig. In der Zeit wird das Bett abmontiert und nach Balingen transportiert. Dort warte ich auf den Bett-Monteur und lass ihn herein. Ungeduldig kann ich es kaum erwarten, zu sehen, ob die erste Fahrt im Rollstuhl gut verlief. Endlich kommt der Caddy langsam vor dem Haus zum Stehen. Ich renn hin und her, bitte die Arbeiter vorm Haus um Hilfe, ihn mitsamt dem Rollstuhl ins Haus zu heben. Noch sind die Außenanlagen nicht fertig, daher ist der Absatz mit 20 Zentimeter quasi unüberwindbar. Mama ist ruhiger und konzentrierter als ich, aber erschöpft von Missverständnissen mit den jetzt ehemaligen Pflegekräften. Es war nichts vorbereitet, so musste sie noch alles einpacken, was Toni täglich braucht und was folglich mit umziehen soll. Toni ist fest eingepackt, soweit ganz okay und wach. Die vier Männer packen gern mit an und plötzlich steht er mitten im Raum. Ist endlich da – was für ein unwirklicher Moment! Das Bett steht im Wohnzimmer, da das Schlafzimmer noch nicht bezugsfertig ist. Als alle weg sind und wir zu dritt im Wohnzimmer stehen, löst sich bei mir durchs Weinen die enorme Anspannung. Ein Pfleger vom künftigen Pflegedienst kommt vorbei. Er lernt Toni ein wenig kennen, der antwortet mal mit Grinsen oder Schulterzucken. Auch den Transfer von Toni vom Rollstuhl ins Bett übernimmt diese Pflegekraft. Allerdings startet die wirkliche Pflegeunterstützung erst in 7 Tagen. Jetzt erstmal wird Mama alles allein machen. Die Schienen für den Deckenlift können erst ein paar Tage später montiert werden. Glücklicherweise sogar einmal quer durch die Wohnung. Dort fängt es also an. Zwischen Umzugskisten und Pflegematerial liegt er im Bett und Mama schläft in der kommenden Nacht daneben auf dem Sofa. (Bzw. liegt, weil an Schlaf nicht zu denken ist. Anfangs laufen und brummen die Trocknungsgeräte noch stundenlang im Bad/Schlafzimmer. Wirklich ruhig ist das also nicht.) Soweit möglich haben wir uns alle nach ein paar Stunden auf die neue Situation eingestellt. Zu sehen, wie selbstsicher Mama umsetzt, was sie sich bestimmt im Vorfeld so oft ausgemalt hat, beruhigt mich. Genauso sehr wie Toni, der endlich bei uns ist und einen fast entspannten Eindruck macht. Zu der Zeit lesen wir vor allem aus seinem Gesichtsausdruck, der Kälte/Wärme seiner Hände und vor allem an seiner Pulsfrequenz, wie es ihm geht. Also mache ich mich nach insgesamt etwa 4 Stunden Umzugs-Pause wieder auf den Weg zur Arbeit. 2012 << Es gibt eine Teepackung, auf der steht folgendes Zitat von William Shakespeare: "Oft ist's der eigne Geist, der Rettung schafft, die wir beim Himmel suchen." Den Tee mit diesem Spruch hatte ich ständig bei der Arbeit dabei. Ebenso auch Bachblüten-Notfalldrops. Manchmal ist es schon ein gutes Gefühl, wenn man wieder am Panik-Abgrund steht und dann etwas für sich selbst tun kann.
Einfach Wasser kochen, Teetasse festhalten. Aufpassen, du verbrennst dir noch die Zunge! Sich auf kleine Bereiche konzentrieren. Trotzdem sind wir „schnell“. Es gibt keine Schockstarre oder lähmende Untätigkeit, aber ich bin auch der Ansicht, es ist kein kopfloser Aktionismus. Nein. Wir denken einfach weiter – über den Schmerz hinweg – und planen. Für den Fall, wenn. Damit wir bereit sind. Wir verkaufen das Auto, weil es nicht rollstuhlgeeignet ist. Wir suchen eine behinderten-gerechte Wohnung, da Mama gleich zu Beginn das Ziel hat, ihn zu Hause selbst zu pflegen (mit Unterstützung, aber auf jeden Fall bei uns und nicht in einer Einrichtung). All das läuft schon in den ersten Wochen nebenbei an. Dabei stoße ich an meine Grenzen bei diesen Fragen:
Also, einen Schritt nach dem anderen, sämtliche Möglichkeiten für ihn offenlassen. Und ganz leise hoffen, dass er eines Tages all die Fortschritte schaffen möge die nötig sind, um die ganzen Dinge auch tatsächlich eines Tages selbst nutzen zu können. Trotzdem habe ich über lange Zeit oft dieses schreckliche Gefühl, das bestimmt viele kennen: Wenn man nach einer guten Nacht aufwacht, sich langsam aus der Traumwelt löst, in der man gerade Teil einer heiteren Familienszene war, um dann feststellen zu müssen, dass etwas oder alles fürchterlich anders und schrecklich falsch ist! Kaum waren meine Augen auf, schossen Tränen hinein und ich wünschte, ich könnte zurück. Könnte wieder mit ihm reden und lachen. Wieder nur Kind meiner Eltern sein, unbeschwert und unbelastet. Doch dann höre ich in mir die Stimme meiner Mutter, die nüchtern feststellt, dass Weinen uns nicht vorwärtsbringt. Obwohl ich da vielleicht anderer Meinung bin, hat es in diesem Moment bereits meine Aufmerksamkeit von mir selbst weg, hin zu ihr gelenkt und ich bin wieder fähig, aufzustehen und den Tag anzugehen. Während dem Frühstück rufe ich sie an und höre, wie es ihr geht, mache mir ein Bild von dem Tag, der vor ihr liegt und beginne meinen Arbeitstag. So surreal und nebensächlich mir das an manchen Tagen auch vorkommt. Der Gedanke ist häufig da, dass ich eigentlich mit ihr bei Toni in der Klinik sein sollte. Als könnte meine Anwesenheit etwas bewirken und seinen Zustand positiv verändern! Aber „Da-Sein“ ändert für mich etwas. Ich will dabei sein, es direkt mitkriegen, miterleben – so oft es eben geht. Nur so kann ich mich auch mit Mama austauschen, anstatt ihr nur zuzuhören und blöde Fragen zu stellen, auf die man mit Worten keine Antwort findet. Deshalb also bin ich nahezu immer bei ihnen – oder eben bei der Arbeit. Gerade in dieser persönlich schwierigen Zeit, empfinde ich bei meiner beruflichen Tätigkeit den vielseitigen menschlichen Kontakt und den „dienenden/helfenden Teil“ dabei als besonders heilend. Es ist einfach wohltuend, wenn man für andere Menschen (insbesondere Kinder) – in welch banaler Form auch immer – hilfreich sein kann. 2012<<
In der ersten Zeit des künstlichen Komas ist eigentlich alles unklar. Ich habe nicht das Gefühl, dass er „anwesend“ ist. Er liegt da, zwischen Maschinen und Monitoren, aber er ist einfach weg. Seine Füße, das einzige, das nicht irgendwie verkabelt ist, haben wir ständig in Bearbeitung. Wir massieren und halten, wärmen und drücken. Reflexzonenmassage kann ja nicht schaden und außerdem müssen wir doch irgendwie für Halt sorgen, eine Verbindung herstellen! Keiner kann uns sagen, ob er das überlebt. Und wenn ja, so kann auch keiner sagen, in welchem Zustand er dann wäre. Das ist mit dem Gehirn ja so eine gruselige Sache: manches regelt sich wieder, anderes nicht und für jede Funktion ist das Hirn unerlässlich. Die Vorstellung, dass er nicht ganz wieder aufwacht oder dass er aufwacht und dann nicht ertragen kann, wie sein Dasein sich dann gestaltet, erschreckt mich. Andererseits wünsche ich mir aufs Sehnlichste, er möge mich nicht verlassen. Was wäre das Beste für ihn? Was würde er wollen? Wie sich entscheiden? Er hatte schon immer einen Organspendeausweis und wir haben keine Zweifel, dass er unterstützen und helfen wollen würde. „Sollen Sie alles nehmen, was sie brauchen können!“ war seine Devise. Nur ist die Voraussetzung dafür aber nicht gegeben. Hirntod ist er eben nicht. Schon während der dritten OP am Unfalltag äußert Mama sich eindeutig: „Das ist jetzt sein Weg und wir unterstützen ihn und gehen mit – wie auch immer es ab hier weitergehen wird!“ Innerlich lassen wir ihn frei und gehen, sofern dies sein Weg sein soll. Mir ist jetzt nach 3 Jahren nicht mehr so klar, ob ich träumte oder ob ich mir das irgendwie ausgedacht hab. Im Grunde macht es ja auch keinen Unterschied. Ich spürte ihn nur nicht mehr, er war so weit weg und da malte ich mir aus, wo er jetzt gerade ist: Im Zwischenraum von Leben und Tod. Im selben Jahr ist meine Oma Klara verstorben und ich bin mir sicher, sie ist noch mal die zwei Schritte zurückgekommen, dorthin, wo er sich befindet und bleibt für die Komazeit bei ihm. In meiner Vorstellung ist ihm alles bewusst und er sieht, was uns verborgen bleibt. Ich sehe ihn dort mit Oma Klara und Gott zusammensitzen. Er darf Gott alles fragen und erhält Antworten. Hat die Freiheit sich völlig auszutoben, stob mit Oma Klara körperlos durch die gesamte Milchstraße und zurück… ich gönne ihm dieses Erlebnis. In meinen Gebeten bitte ich Gott darum, ihm eindeutig klar zu machen, welche Optionen er hat. Weiterzugehen und das „Leben danach“ zu wählen oder wieder zurück in seinen Körper zu kommen. Zurück zu den Schmerzen und der ungewissen Zukunft, ohne Genesungsgarantie, ohne Gewähr, ob dieser dann auch noch funktionieren würde. Zurück im Bewusstsein, dass das Leben nie mehr so wäre wie vor dem Unfall, dass er abhängig und pflegebedürftig sein würde. Ich bitte Gott darum, ihm das deutlich zu machen und ihn dann seine Entscheidung treffen zu lassen. Dabei schwanke ich selbst hin und her – wer kann da sagen, was besser wäre? Vor allem: besser für wen? Nur will ich nicht, dass er zurückkommt und dann an seinem Schicksal zerbricht. Und wie durch ein Wunder oder Gott sei Dank entscheidet er sich dafür, zurückzukommen. Mit einer Konsequenz und Willenskraft, die ich beeindruckend finde. Und ich bin unendlich dankbar dafür, dass er sich nicht aufgegeben hat, sondern seither täglich weiterkämpft. Vor ein paar Monaten habe ich ihm davon mal erzählt. Von Oma Klara, die sich dann in die andere Richtung verabschiedet hat. Vom Kaffeeklatsch mit Gott und seiner Spritztour durch die Milchstraße. Seine Reaktion war ein leises Lächeln, ein Kopfschütteln und ein Schulterzucken gleichzeitig. Natürlich weiß er davon nichts mehr. Das war ja Teil des Deals. Aber für mich ist das definitiv wahr! |
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August 2020
AutorIn den ersten dreieinhalb Jahren nach dem Unfall fast immer mit dabei |