<2016>
Den Zustand seiner Aufmerksamkeit (oder vielmehr zeitweiligen geistigen Abwesenheit) nachdem Toni aus dem Wachkoma "wiedererwacht" ist, mache ich heute mal zum Thema: Ich könnte nicht sagen, dass er im Durchschnitt täglich soundsoviele Stunden abwesend ist. An manchen Tagen hat er Schlaf- und Wach-Phasen und ist stets ansprechbar. Es gibt aber auch Tage, da ist er überwiegend in sich gekehrt und einfach nicht ganz "da". Es schwankt ziemlich und noch ist mir nicht klar, ob es daran liegt, wie gut und erholt er sich nach der vorangegangenen Nacht fühlt oder ob es am Wettereinfluss liegt. Ich weiß auch gar nicht, ob ich es schaffe, diesen Zustand verständlich zu machen… In diesem Zustand sind seine Augenlider auf Halbmast, die Augen bewegen sich dauernd hin und her und was auch immer sie sehen mögen - es findet nicht in der Realität statt, die wir miteinander teilen. Taucht er daraus wieder auf, hat er uns seit neuestem oft dringlich etwas mitzuteilen. Das ist meist aber so schnell und undeutlich artikuliert, dass wir geduldig mehrfach nachfragen müssen, bis wir uns langsam zusammenreimen können, was eigentlich bei ihm los ist. „Kannst du mir bitte den Kellerschlüssel bringen?“ - „Was brauchst du aus dem Keller?“ - „Die Leiter.“ - „Warum musst du auf die Leiter?“ - „Draußen bei der Alarmanlage.“ - „Was musst du dort machen?“ - „Den Mikrochip ausbauen und hier drinnen einbauen.“ Oder: „Ich brauche drei von den kleinen schwarzen Magnetkontakten.“ Oder: „Der Schalter von der Glasbruchmeldeanlage muss ausgetauscht werden.“ Oder: „Bringst du mir meinen Führerschein?“ – „Wozu brauchst du den?“ – „Auto fahren.“ – „Wer fährt (also wer sitzt am Steuer)?“ - „Ich!“ Oder der Klassiker seit ein paar Monaten: „Was hast du heute gemacht?“ – Toni: „Ich war im Hallenbad!“ Kommt es zu solchen Kollisionen verschiedener Realitäten, versucht Mama, ihn langsam wieder an unsere Wirklichkeit heranzuführen. Sie stellt ihm Fragen über den Stand seiner körperlichen Fähigkeiten, ob er denn gerade wirklich eine Leiter hochsteigen könnte. Warum das so ist, was bei dem Schädelhirntrauma passiert ist. Und sie sagt ihm, dass er in Gedanken gern weiter an der Alarmanlage herumbasteln kann, aber eben in Gedanken. Nicht wirklich wirklich. Deshalb holt sie jetzt weder eine Leiter noch schiebt sie den Rollstuhl nach draußen zur nichtexistierenden Alarmanlage. Im ersten Moment ist es witzig, was er da so aus dem Nichts heraus erzählt. Es fehlt ihm auch noch die Übung, so dass Worte wie „Brandmeldezentrale“ lustig klingen. Nicht selten muss ich mich zusammenreißen, um nicht zu lachen. Vor allem, weil wir uns noch immer nicht an die positive Tatsache gewöhnt haben, dass er von sich aus einfach zu Sprechen beginnt. Nicht immer haben wir die nötige Geduld und Kraft, ihm den Unfall und die Veränderungen im „Leben jetzt“ im Vergleich zum „Davor“ zu erklären. Manchmal hilft es auch, ihn dann einfach mit etwas anderem zu beschäftigen. Nicht immer, aber recht oft lässt er sich ganz gut ablenken. Es sind für ihn ja keine Tagträume oder Gedankenreisen. Es ist kein Luftschlossbau und auch kein Wunschdenken. Aus irgendeinem Grund rutscht manchmal seine Aufmerksamkeit auf eine andere Spur und folgt Erinnerungen, Erlebnissen oder sonst etwas aus dem Fundus seines Gehirns. Für ihn ist das dann real, so wirklich wie die Brille auf seiner Nase. Kommentare sind geschlossen.
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August 2020
AutorIn den ersten dreieinhalb Jahren nach dem Unfall fast immer mit dabei |