2012<<
In der ersten Zeit des künstlichen Komas ist eigentlich alles unklar. Ich habe nicht das Gefühl, dass er „anwesend“ ist. Er liegt da, zwischen Maschinen und Monitoren, aber er ist einfach weg. Seine Füße, das einzige, das nicht irgendwie verkabelt ist, haben wir ständig in Bearbeitung. Wir massieren und halten, wärmen und drücken. Reflexzonenmassage kann ja nicht schaden und außerdem müssen wir doch irgendwie für Halt sorgen, eine Verbindung herstellen! Keiner kann uns sagen, ob er das überlebt. Und wenn ja, so kann auch keiner sagen, in welchem Zustand er dann wäre. Das ist mit dem Gehirn ja so eine gruselige Sache: manches regelt sich wieder, anderes nicht und für jede Funktion ist das Hirn unerlässlich. Die Vorstellung, dass er nicht ganz wieder aufwacht oder dass er aufwacht und dann nicht ertragen kann, wie sein Dasein sich dann gestaltet, erschreckt mich. Andererseits wünsche ich mir aufs Sehnlichste, er möge mich nicht verlassen. Was wäre das Beste für ihn? Was würde er wollen? Wie sich entscheiden? Er hatte schon immer einen Organspendeausweis und wir haben keine Zweifel, dass er unterstützen und helfen wollen würde. „Sollen Sie alles nehmen, was sie brauchen können!“ war seine Devise. Nur ist die Voraussetzung dafür aber nicht gegeben. Hirntod ist er eben nicht. Schon während der dritten OP am Unfalltag äußert Mama sich eindeutig: „Das ist jetzt sein Weg und wir unterstützen ihn und gehen mit – wie auch immer es ab hier weitergehen wird!“ Innerlich lassen wir ihn frei und gehen, sofern dies sein Weg sein soll. Mir ist jetzt nach 3 Jahren nicht mehr so klar, ob ich träumte oder ob ich mir das irgendwie ausgedacht hab. Im Grunde macht es ja auch keinen Unterschied. Ich spürte ihn nur nicht mehr, er war so weit weg und da malte ich mir aus, wo er jetzt gerade ist: Im Zwischenraum von Leben und Tod. Im selben Jahr ist meine Oma Klara verstorben und ich bin mir sicher, sie ist noch mal die zwei Schritte zurückgekommen, dorthin, wo er sich befindet und bleibt für die Komazeit bei ihm. In meiner Vorstellung ist ihm alles bewusst und er sieht, was uns verborgen bleibt. Ich sehe ihn dort mit Oma Klara und Gott zusammensitzen. Er darf Gott alles fragen und erhält Antworten. Hat die Freiheit sich völlig auszutoben, stob mit Oma Klara körperlos durch die gesamte Milchstraße und zurück… ich gönne ihm dieses Erlebnis. In meinen Gebeten bitte ich Gott darum, ihm eindeutig klar zu machen, welche Optionen er hat. Weiterzugehen und das „Leben danach“ zu wählen oder wieder zurück in seinen Körper zu kommen. Zurück zu den Schmerzen und der ungewissen Zukunft, ohne Genesungsgarantie, ohne Gewähr, ob dieser dann auch noch funktionieren würde. Zurück im Bewusstsein, dass das Leben nie mehr so wäre wie vor dem Unfall, dass er abhängig und pflegebedürftig sein würde. Ich bitte Gott darum, ihm das deutlich zu machen und ihn dann seine Entscheidung treffen zu lassen. Dabei schwanke ich selbst hin und her – wer kann da sagen, was besser wäre? Vor allem: besser für wen? Nur will ich nicht, dass er zurückkommt und dann an seinem Schicksal zerbricht. Und wie durch ein Wunder oder Gott sei Dank entscheidet er sich dafür, zurückzukommen. Mit einer Konsequenz und Willenskraft, die ich beeindruckend finde. Und ich bin unendlich dankbar dafür, dass er sich nicht aufgegeben hat, sondern seither täglich weiterkämpft. Vor ein paar Monaten habe ich ihm davon mal erzählt. Von Oma Klara, die sich dann in die andere Richtung verabschiedet hat. Vom Kaffeeklatsch mit Gott und seiner Spritztour durch die Milchstraße. Seine Reaktion war ein leises Lächeln, ein Kopfschütteln und ein Schulterzucken gleichzeitig. Natürlich weiß er davon nichts mehr. Das war ja Teil des Deals. Aber für mich ist das definitiv wahr! Kommentare sind geschlossen.
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August 2020
AutorIn den ersten dreieinhalb Jahren nach dem Unfall fast immer mit dabei |