Ich hatte als Kind hellblaue Lackschuhe, die ich wirklich sehr liebte. So sehr, dass ich nicht glauben wollte, sie könnten mir mal nicht mehr passen! Genau das ist aber passiert: sie wurden zu klein und es tat weh, sich da dennoch hinein zu quetschen, weil ich diese Schuhe unbedingt behalten wollte.
Gestern zog ich Toni seine Pantoffeln wieder an und dabei fiel mir das Märchen von Aschenputtel ein, wo zum Schluss der gläserne Pantoffel vielfach vergeblich anprobiert wird. Im Zusammenspiel mit den blauen Lieblingsschuhen gibt das möglicherweise ein nachvollziehbares Bild. Das Leben mit all den Möglichkeiten, das ich vor dem Unfall meines Stiefvaters führte, ist wie das Paar blaue Kinderschuhe: Obwohl es an ihnen nichts auszusetzen gibt und ich sie immer noch mag, kann ich darin nie mehr gehen. Mich reinzuquetschen täte unheimlich weh und geht gar nicht mehr ganz. Unter Schmerzen habe ich einsehen müssen: ich bin da herausgewachsen. So vieles im Leben der Menschen um mich herum ist für mich undenkbar und unerreichbar. Der Besuch einer Weihnachtsfeier oder Familienfeste – ich kann das nicht. Dauernd erinnert Schmerz daran, dass ich das nicht erreichen kann. Das ist als wären alle anderen in ihren Blauen Schuhen weitergegangen, während ich keinen Schritt darin mehr tun kann. Obwohl ich das gerne möchte, denn schließlich waren meine Schuhe (also mein Leben und seine Aussichten) gut. Oft ist das unendlich frustrierend. Ständig hinterfrage ich: Stelle ich mich nur blöd an? Müsste ich mich einfach zusammenreißen? Da es meiner Mutter aber ähnlich geht, glaube ich es ist einfach so. Durch den Unfall mussten wir wachsen. In eine andere Richtung als geplant. Deshalb können wir nicht mehr zurück, denn da passen wir nicht mehr rein. Das ist es, was wir meinen mit „der anderen Welt“ und „unserer Welt“. Und hier in unserer Welt reiße ich mich sehr zusammen. Ich bin zwangsweise optimistisch, da mein früherer Pessimismus uns auch nicht weiterhilft. Ich versuche wegzuschieben, was jetzt im Moment nicht lösbar ist und kümmere mich darum, gesund zu bleiben und jeden Tag aufzustehen. Alles reduziert sich auf ganz wenig. Auf Schuhe, die passen und in denen ich gehen kann.
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August 2020
AutorIn den ersten dreieinhalb Jahren nach dem Unfall fast immer mit dabei |